Berlin. 22 Menschen sind diesen Winter in Deutschland erfroren. Helfer fürchten, dass es so viele Kältetote wie seit Jahren nicht geben könnte.

  • Mindestens 22 obdachlose Menschen sind in diesem Winter bereits erfroren
  • Die Zahl ist damit so hoch wie seit dem Winter 2009/10 nicht mehr
  • Kommunen schaffen es nicht immer, ausreichend Notunterkünfte bereit zu stellen
  • Wo es Schutzräume gibt, drohen andere Gefahren
  • Die Grünen kritisieren die Bundesregierung, die ihrer Verantwortung nicht nachkomme

Die Temperaturen fallen in Deutschland derzeit tief unter den Gefrierpunkt, es ist der wohl kälteste Winter seit Jahren. Schnee, Wind und Eis treffen jene besonders, die dem Wetter oft schutzlos ausgeliefert sind: Menschen ohne Wohnung, Menschen, die auf der Straße leben.

In provisorischen Unterkünften und in Schlafsäcken, müssen sie mit Wetterbedingungen fertig werden, die Weichen einfrieren und Autobahnen unbenutzbar machen. Hilfsvereine warnen, dass es so viele Kältetote wie seit Jahrzehnten nicht mehr geben könnte.

Obdachlose: 21 Kältetote in Deutschland

Mindestens 19 obdach- und wohnungslose Menschen sind in diesem Winter 2020/21 in Deutschland bereits an den Temperaturen gestorben, schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W). "Sie erfroren im Freien, unter Brücken, auf Parkbänken, in Hauseingängen, unter Planen, in Zelten und sonstigen notdürftigen Unterständen", sagte Werena Rosenke, Sprecherin des Berliner Vereins unserer Redaktion.

Die BAG W wertet Winter für Winter systematisch Medienberichte aus. Seit beginn der Dokumentation im Jahr 1991 zählte Verein mindestens 335 wohnungslose Menschen, die an Unterkühlung gestorben sind. Die aktuelle Liste kennt 19 Fälle, der letzte stammt vom 7. Februar.

Eine Umfrage unserer Redaktion bei mehreren Dutzend Polizeidirektionen in zahlreichen Städten ergab noch einen weiteren Todesfall: In Oberbayern im Landkreis Freising wurde am 4. Dezember unter einer Autobahnbrücke die Leiche eines erfrorenen 51-jährigen Obdachlosen gefunden, teilte das zuständige Polizeipräsidium mit. Auch in Krefeld in Nordrhein-Westfalen hat die Polizei uns einen Fall gemeldet. Der Mann sei am Donnerstag erfroren aufgefunden worden.

Das Obdachlosenmagazin "Hintz&Kuntz" aus Hamburg hat zudem am Donnerstag von einem bestätigten Fall berichtet. Ein etwa 60 Jahre alter Obdachloser war in der Nähe der Landungsbrücken gefunden worden.

Klar ist schon jetzt: Die Zahl der Kältetoten unter den Wohnungs- und Obdachlosen war seit dem Winter 2009/10 nicht mehr so hoch, wie in diesem Winter. Damals verstarben mindestens 16 Menschen. Mehr Todesfälle hat es nur 1996/97 gegeben als 25 Menschen erfroren.

Kältetote: Kritik an der Bundesregierung

22 Erfrorene Menschen allein in diesem Winter – die Grünen im Bundestag wollen das nicht hinnehmen. "Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie einen nationalen Aktionsplan ins Leben ruft", sagte Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sprecher für Arbeitsmarktpolitik und Europäische Sozialpolitik der Grünen-Fraktion im Bundestag, unserer Redaktion. "Gemeinsam mit Ländern und Kommunen müsse an einer Strategie zur Beseitigung und Vermeidung von Wohnungs- und insbesondere Obdachlosigkeit gearbeitet werden", fordert Strengmann-Kuhn.

Kältetote: Zahl so hoch wie lange nicht mehr

Der Handlungsbedarf ist dringend, zumal die BAG W ausdrücklich darauf hinweist, dass es sich bei dokumentierten Fällen um eine Mindestzahl handelt. Manche Fälle bleiben der Öffentlichkeit schlicht unbekannt.

Aus Sicht der BAG W gibt es zwei Gründe, warum die Zahl in diesem Winter schon so hoch ist. "Einerseits haben wir es mit einem Winter mit vielen kalten Tagen und Nächten zu tun", sagte Vereinssprecherin Rosenke. Dazu verschärft die Corona-Pandemie die Situation. "Viele Hilfeangebote der freien Träger wurden oder mussten eingeschränkt werden, um notwendige Ansteckungsschutzmaßnahmen umzusetzen.”

Obdachlose: Doppelt von der Pandemie betroffen

Die Menschen sind in vielerlei Weise von dem Coronavirus betroffen. Einerseits kann eine Covid-19-Erkrankung für diese Bevölkerungsgruppe besonders gefährlich sein. Die Immunsysteme von Obdachlosen sind oft geschwächt, häufig leiden sie unter Vorerkrankungen.

Der Impfplan des Bundesgesundheitsministeriums trägt dem zwar Rechnung – Menschen, die in Obdachlosenunterkünften leben, gehören zur zweiten Impfgruppe, haben "hohe Priorität".

Durch das Impfraster des Ministeriums fallen dabei allerdings jene, die keinen Zugang zu den Unterkünften haben. Längst nicht alle, die ohne Obdach sind, können oder wollen in die bereitgestellten Unterkünfte. Das kann unterschiedliche Gründe haben. Frauen und LGBTIQ müssen zum Beispiel mit Angriffen rechnen. Die Zugangshürden zu den Unterkünften sind zudem oft hoch, etwa wenn Hunde nicht mit rein dürfen.

Andererseits kann auch die Angst vor Ansteckung Menschen davor abhalten, Schutz vor dem Wetter zu suchen. "Es gibt Fälle, in denen wohnungslose Menschen bewusst verfügbare Einrichtungen meiden, aus Angst, sich dort anzustecken. Diese setzen sich so der Gefahr der Kälte im Freien aus", sagte Rosenke.

Obdachlose: Hilfe in der Pandemie

Ein Weg, Menschen zu helfen, ist die Anmietung von leerstehenden Hotels, um zumindest vorübergehend einen Aufenthalt im Warmen zu gewährleisten. Was gerade in Pandemiezeiten naheliegend klingt, schließlich dürfen die Hotels oder Hostels zurzeit nur sehr eingeschränkt Menschen beherbergen, ist keineswegs gelebte Praxis.

"Nicht alle Kommunen haben in ausreichendem Maße zusätzliche Unterkunftsplätze geschaffen, etwa durch Anmietung leerstehender Hotels, Hostels, Jugendherbergen, Ferienwohnungen", sagte Rosenke.

Eine Ausnahme bildet etwa Düsseldorf. Die Stadt hat sechs Hotels angemietet, um 200 Menschen unterzubringen. Auch in Berlin haben sich drei Hotels an der Kältehilfe für diesen Winter beteiligt und 200 Betten zur Verfügung gestellt.

Obdachlose: Bunderegierung in Verantwortung

Grünen-Abgeordneter Strengmann-Kuhn sieht an dieser Stelle die Bundesregierung in der Pflicht. Sie hätte Kommunen dabei unterstützen müssen, "dass obdachlose Menschen durch die gezielte Unterbringung in leerstehenden Hotels, Jugendherbergen oder Pensionen Schutzräume finden", sagte er.

Diese Verantwortung habe die Bundesregierung in den letzten Monaten aber nicht wahrgenommen. "Der Bund verweist regelmäßig auf die Zuständigkeit der Länder und Kommunen und zieht sich aus der Verantwortung. Das muss ein Ende haben."

Kältetote: Nachhaltig hilft nur ein fester Wohnsitz

Die Notunterkünfte, angemieteten Herbergen und Hotels sind allerdings nur eine vorübergehende Hilfe. Richtig nachhaltig hilft obdach- oder wohnungslosen Menschen vor allem eines: ein fester Wohnsitz.

Das Berliner Modellprojekt Housing First etwa unterstützt Menschen bei der Anmietung von Wohnungen. Innerhalb von drei Jahren soll 40 Menschen ein fester Wohnsitz vermittelt werden. Bisher läuft das Projekt erfolgreich. In nur einem Jahr gelang es, 20 Menschen zu einer Wohnung zu verhelfen.