Berlin. In Deutschland befürchten einige Ärzte die Anwendung des Triage-Systems in Kliniken in der vierten Corona-Welle. Was heißt das genau?

  • Mediziner warnen vor einer Notsituation in den Krankenhäusern
  • Zu wenige Menschen sind geimpft, die Delta-Variante ist aggressiv
  • Einige Ärzte fürchten bereits die Anwendung der Triage
  • Was das Triage-System bedeutet

Die Corona-Zahlen in Deutschland steigen weiter an und die Krankenhäuser bereiten sich auf eine erhöhte Anzahl von Patientinnen und Patienten vor. Gernot Marx spricht bereits jetzt von einer „echten Notsituation“ vieler Kliniken. In Sachsen, Thüringen und Bayern sei die Lage wegen der stark angestiegenen Zahl der Intensivpatienten „schon jetzt sehr, sehr angespannt“, sagte der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Die Charité in Berlin hat bereits alle planbaren Operationen abgesagt.

Während Marx auch in der vierten Welle keine Triage befürchtet, warnen Ärzte in München gerade vor dieser. Die Triage könne „innerhalb weniger Wochen“ erreicht sein, „wenn jetzt nicht gegengesteuert wird“, so Axel Fischer, Geschäftsführer der München Klinik. Als Gründe hierfür nannte der Mediziner das aggressivere Verhalten der Delta-Variante, einen Nachlass der Immunisierung „insbesondere“ bei den zu Jahresbeginn geimpften Personen und eine zu niedrige Impfquote in der Gesamtbevölkerung.

Doch was ist eigentlich genau das Triage-System?

Triage: Bedeutung und Herkunft des Begriffs

Mit Triage ist die Einteilung von Verletzten und Kranken nach der Schwere der Fälle gemeint. Der Begriff „Triage“ kommt aus dem Französischen und bedeutet „Auswahl“ oder „Sichtung“. Ärzte und Pfleger sollen damit leichter entscheiden können, wer zuerst behandelt wird. Triagieren gehört in Notaufnahmen zum Alltag, stammt jedoch ursprünglich aus der Militärmedizin. Die Soldaten mit den besten Aussichten auf Genesung sollten zuerst Hilfe bekommen, und nicht unbedingt die Menschen, die sie am nötigsten zum Überleben brauchten.

Dieser Ansatz steht im Konflikt mit den eigentlichen Prinzipien der Medizin: In einer Notaufnahme werden Menschen, denen es besonders schlecht geht, auch besonders dringlich behandelt. Wenn Zeit, Personal oder Materialien knapp sind und eine angemessene Versorgung aller nicht möglich ist, wandelt sich das jedoch. In solchen dramatischen Situationen dient die Triage dazu, Behandlungsentscheidungen so zu treffen, dass möglichst viele Menschen überleben.

Im Fall der Fälle müssen Ärzte, Ärztinnen, Pfleger und Pflegerinnen über Leben und Tod entscheiden.
Im Fall der Fälle müssen Ärzte, Ärztinnen, Pfleger und Pflegerinnen über Leben und Tod entscheiden. © dpa | Marijan Murat

Corona: Warum braucht man das Triage-System?

Das Triage-System wurde zu Zeiten der Napoleonischen Kriege im 18. Jahrhundert entwickelt. Heute belastet kein Krieg, sondern ein Virus das Gesundheitssystem, doch das Problem ist ähnlich. Käme es zum Ernstfall, in dem die Intensivkapazitäten erschöpft wären, müssten Ärzte moralisch höchst schwierige Entscheidungen treffen: Welcher Patient bekommt das letzte verfügbare Beatmungsgerät? Sollte eine Beatmung zugunsten eines anderen Patienten gestoppt werden? Wer darf überleben?

Mehr zum Thema: Wie pöbelnde Impfgegner das Klinikpersonal belasten

Das Triage-System soll Richtlinien bieten, um das medizinische Personal in einem solchen Dilemma nicht alleine zu lassen. Durch festgeschriebene Kriterien und Handlungsanweisungen sind Mediziner und Pfleger nicht mehr individuell für ihre Entscheidung verantwortlich. Klare Vorgaben sollen außerdem Chancengleichheit für Erkrankte schaffen.

Triage: Wie ist die Situation in Deutschland?

Während der Corona-Pandemie konnte auf das Triage-System in Deutschland bisher weitgehend verzichtet werden. Doch die Kliniken kommen in der vierten Welle nun wieder an ihre Kapazitätsgrenzen. „Das ist eine echte Notsituation. Wegen der Erfahrungen der vorangegangenen Wellen gehen wir fest davon aus, dass schon bald Patienten wieder aus Corona-Hotspots in Kliniken außerhalb verlegt werden müssen“, sagte Marx gegenüber der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.

„Wir sind jetzt schon in einer kritischeren Phase, weil wir aufgrund der erschöpften und ausgebrannten Pflegekräfte, die den Job hingeworfen oder ihre Arbeitszeit reduziert haben, 4000 Intensivbetten weniger belegen können als vor einem Jahr.“ Für alle in der Intensivmedizin Tätigen sei das gerade eine „extreme Situation“. Marx forderte von der Politik „sehr zügig klare und der Lage angemessene Entscheidungen, und zwar für bundesweit einheitliche Regeln“.

Pandemie: Das sind die Triage-Kriterien in Deutschland

Bereits im Frühjahr 2020 hatten sieben medizinische Fachgesellschaften eine erste Version klinisch-ethischer Empfehlungen herausgegeben. Darin geben sie Empfehlungen, nach welchen Kriterien ein Behandlungsteam über die Priorisierung eines Patienten entscheiden sollte.

Ziel der Triage-Empfehlungen ist es, möglichst viele Menschen in Zeiten knapper Ressourcen zu behandeln. Die klinische Erfolgsaussicht gilt dabei als wichtigstes Entscheidungskriterium: Je schneller jemand wieder gesund wird, desto eher kann der nächste Patient den frei gewordenen Platz auf der Intensivstation nutzen. Um die Erfolgsaussicht zu prüfen, führen die Fachgesellschaften folgende Kriterien an:

  • den Schweregrad der Erkrankung
  • den allgemeinen Gesundheitszustand
  • mögliche Begleiterkrankungen, die die Diagnose verschlechtern können (zum Beispiel eine fortgeschrittene Krebserkrankung oder Immunschwäche)
  • Das Alter wird explizit als alleiniges Entscheidungskriterium ausgeschlossen. Gleiches gilt für soziale Faktoren: Bildungsstand, Einkommen oder sozialer Status dürfen keine Rolle spielen

Interaktiv: Corona-Krise – So ist die Lage auf Deutschlands Intensivstationen

Intensivstation: Bei Triage entscheiden mehrere Ärzte und Pfleger

Wichtig ist bei der Triage das Mehraugenprinzip: Am besten sollten mindestens zwei Ärzte der Intensivmedizin und ein erfahrenes Mitglied aus dem Pflegeteam gemeinsam entscheiden. Prinzipiell muss der Patient außerdem in die Behandlung einwilligen. Das kann zum Beispiel im Rahmen einer Patientenverfügung festgehalten sein.

Das Dokument mit dem Titel „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie“ der Fachgesellschaften ist kein Gesetz und in diesem Sinne juristisch nicht bindend. Allerdings kommt eine gute Leitlinie der Abbildung des medizinischen Standards nahe – der wiederum für Ärzte verbindlich und rechtlich relevant ist.

Die Empfehlungen der Fachgesellschaften beziehen sich nicht nur auf Covid-19-Patienten. Die Entscheidung, wer priorisiert behandelt wird, fällt vielmehr zwischen allen Patienten, die eine Intensivbetreuung benötigen. Das heißt, es wird in Kliniken kein bestimmtes Kontingent an Beatmungsgeräten geben, das nur Covid-19-Patienten zur Verfügung steht.

Die Triage-Empfehlungen bedeuten, dass das medizinische Personal ihnen im Ernstfall folgen sollte. Auch um sich vor strafrechtlichen Konsequenzen zu schützen, falls es zu einer Klage kommt. Vonseiten der Regierung wird es keine zusätzlichen Vorgaben geben: Das Grundgesetz verbietet dem Staat, Richtlinien festzulegen. Die in Artikel 1 GG festgeschriebene Würde des Menschen untersagt es der Politik, in diesem Bereich einzugreifen. Das hat das Bundesverfassungsgericht im August 2020 auch noch einmal bestätigt. (amw mit dpa, afp)