Berlin. Drosten, Ciesek, Streeck und Co: 2020 war das Jahr der Virologen. Mit ihrem Aufstieg war ebenso wenig zu rechnen wie mit der Pandemie.

Wenige Menschen haben 2020 so geprägt wie die Virologen. Forscher, die vorher nur einer Fachöffentlichkeit bekannt waren, sind am Ende des Corona-Jahres zu Stars geworden. Und damit war eben so wenig zu rechnen wie mit der Pandemie.

Wohl kaum eine Krise hat im Nachkriegsdeutschland eine so große Unsicherheit ausgelöst wie das neuartige Coronavirus. Kein Wunder, dass sich rationale Naturwissenschaftler mit Fachwissen und Fakten jetzt so großer Beliebtheit erfreuen.

Denn sie können nicht nur unsere Fragen beantworten, sondern machen auch Hoffnung, dass die Pandemie irgendwann einmal vorbei ist. Christian Drosten, Melanie Brinkmann, Sandra Ciesek und Hendrik Streeck sind nur einige der Virologen, die uns durch das Corona-Jahr begleitet haben.

Christian Drosten, Chefvirologe an der Berliner Charité

Der Superstar unter den Frauen und Männern im weißen Kittel ist Christian Drosten. Dem Chef-Virologen der Berliner-Charité hat die Punkband ZSK sogar einen Song gewidmet. In dem Video zu „Ich habe Besseres zu tun“ tötet der Wissenschaftler Corona-Erreger mit seinen Blicken.

Und auch bei Twitter wurde Drosten im Jahr 2020 berühmt. Der Virologe hat in dem sozialen Netzwerk 2020 deutschlandweit das größte Wachstum an Followern verzeichnet. Lesen Sie mehr dazu:Google-Trends im Corona-Jahr: „Warum kaufen alle Klopapier?“

Sandra Ciesek, Leiterin der Virologie am Uniklinikum Frankfurt

Sandra Ciesek, Leiterin der Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt, ist neben Drosten seit September regelmäßig Gast im „Coronavirus-Update“. Der NDR-Podcast hatte allein bis zur Sommerpause mehr als 60 Millionen Abrufe und wurde mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

Vom Nachrichtenmagazin „Spiegel“ wurde Ciesek in einem Interview als „Quotenfrau“ bezeichnet, was der Redaktion viel Kritik einbrachte. Die Virologin hatte mit ihrem Team schon im Februar 2020 nachgewiesen, dass auch symptomfreie Menschen das Coronavirus übertragen können.

Die Corona-Pandemie machte auch Sandra Ciesek, Leiterin der Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt, deutschlandweit bekannt. Sie tritt neben Drosten im Podcast „Coronavirus-Update“ auf.
Die Corona-Pandemie machte auch Sandra Ciesek, Leiterin der Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt, deutschlandweit bekannt. Sie tritt neben Drosten im Podcast „Coronavirus-Update“ auf. © dpa | Frank Rumpenhorst

Melanie Brinkmann, Virologin am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig

Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig setzt sich besonders für ein stärkeres Vorgehen gegen Falschinformationen in der Pandemie ein. „Wir müssen sicherstellen, dass Informationen, die noch nicht gar sind, keine massenhafte Verbreitung finden“, sagt sie.

In dem Hörbuch „Ist Corona pink?“ beantwortet die Professorin Fragen von Kindern zur Pandemie. Im letzten Maischberger-Talk des Jahres warb sie für strengere Corona-Maßnahmen: „Je härter der Lockdown, desto kürzer ist er auch.“

Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie der Universität Bonn

Hendrik Streeck ist Direktor des Instituts für Virologie der Universität Bonn. Mit seiner sogenannten Heinsberg-Studie wurde erstmals ein Coronavirus-Hotspot detailliert untersucht. Der Virologe wirbt für einen angstfreien und lockeren Umgang mit der Pandemie.

Während viele seiner Kollegen sorgenvoll auf das aktuelle Infektionsgeschehen blicken, lehnt Streeck strenge Regeln und Lockdowns eher ab. Deshalb wurde er schon häufiger als Gegenspieler von Drosten stilisiert, aber auch kritisiert.

Corona-Jahr: „Herrschaft der Virologen“

Doch nicht nur an den einzelnen Wissenschaftlern gibt es Kritik. Zuweilen wird gar von einer „Herrschaft der Virologen gesprochen“ – schließlich erklären Politiker mitunter, sie würden nur ausführen, was die Experten ihnen vorgeben.

Der Soziologe Armin Nassehi von der Universität München, der selbst immer wieder von Bundespolitikern um Rat gefragt wird, glaubt das allerdings nicht: „Es gibt keine Herrschaft von Wissenschaftlern. Wissenschaftler stellen Forschungsergebnisse zur Verfügung, aber die Politik muss das in Entscheidungen umsetzen.“ Das geschehe nie eins zu eins, schon deshalb nicht, weil die Erkenntnisse und Empfehlungen der Wissenschaftler selten eindeutig seien.

In der Corona-Pandemie untersuchte ein Team um Hendrick Streeck in der sogenannten Heinsberg-Studie erstmals einen Coronavirus-Hotspot detailliert.
In der Corona-Pandemie untersuchte ein Team um Hendrick Streeck in der sogenannten Heinsberg-Studie erstmals einen Coronavirus-Hotspot detailliert. © dpa | Federico Gambarini

Corona-Erkenntnisse: Virologen geben verschiedene Antworten

Die Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Katja Becker, würde sich wünschen, dass zumindest die Virologen öfter mit einer Stimme sprechen. „Wenn Sie zehn Virologen eine Frage stellen, erhalten Sie unter Umständen mehrere verschiedene Antworten.“

Das sei einerseits zwar verständlich, denn jeder habe seinen eigenen Erfahrungshorizont. Zielführender wäre aber gerade in der aktuellen Pandemiesituation, wenn die Wissenschaftler zunächst untereinander diskutieren und sich dann möglichst auf eine gemeinsame Linie einigen würden. „Das wird aktuell leider zu selten getan“, bedauert Becker.

Corona-Virologen: Für die Menschen wie gute Nachbarn

Aus Erfolgen, wie dem des „Coronavirus-Updates“, dürfe man nicht schlussfolgern, dass Millionen Hörer den Ehrgeiz hätten, das Corona-Thema wirklich zu durchdringen, schränkt der Medienpsychologe Frank Schwab von der Universität Würzburg ein.

„Aus der Nachrichtenforschung wissen wir, dass die Leute die Tagesschau nicht unbedingt einschalten, um sich zu informieren. Die meisten können kurz nach dem Ende der Sendung weniger als 20 Prozent der Meldungen wiedergeben.“ Das Nachrichtenschauen habe eher die Funktion eines Screenings: Ist noch alles in Ordnung? Viele Menschen mögen es auch, den Abend mit Marietta Slomka oder Ingo Zamperoni abzuschließen - sie sind für sie wie gute Nachbarn, die man zu kennen glaubt.

Die Medienforschung bezeichnet das als „parasoziale Beziehung“. „Und das ist bei Herrn Drosten vermutlich ähnlich“, sagt Schwab. Eine Kölner Medizinerin, die lieber nicht namentlich genannt werden will, ist wochenlang mit dem Podcast eingeschlafen, weil sie seine Stimme so angenehm und beruhigend findet.

Strengere Corona-Regeln – Virologin Melanie Brinkmann sagte im letzten Maischberger-Talk des Jahres: „Je härter der Lockdown, desto kürzer ist er auch.“
Strengere Corona-Regeln – Virologin Melanie Brinkmann sagte im letzten Maischberger-Talk des Jahres: „Je härter der Lockdown, desto kürzer ist er auch.“ © dpa | Michael Sohn

Wissenschaft in der Pandemie: Wächst das Ansehen?

Kann man aber davon ausgehen, dass die Wissenschaft im Corona-Jahr 2020 einen Ansehenszuwachs verbucht hat? „Auf der einen Seite gibt es schon eine große Achtung vor der unfassbaren Leistung, in so kurzer Zeit Impfstoffe zu entwickeln“, so Soziologe Nassehi. „Auf der anderen Seite erleben wir aber auch Wut und Unverständnis, etwa darüber, dass sich die Wissenschaft permanent selbst korrigiert.“

Und: Wollen Kinder jetzt Virologen werden? DFG-Präsidentin Becker kann sich das durchaus vorstellen. „Das wäre ein schöner Effekt. Ich glaube, dass gerade von der biomedizinischen Forschung eine enorme Faszination ausgeht.“

Pandemie: Die Menschen werden schnell verdrängen

Der Wissenschaftsjournalist und Moderator Ranga Yogeshwar schränkt allerdings ein, dass es immer wieder Phasen gegeben habe, in denen die Wissenschaft besonders gefragt gewesen sei – ein Beispiel dafür sei die Atomkatastrophe von Fukushima vor fast zehn Jahren. Damals wurde auch er als Experte durch die Talkshows gereicht: „Heute erinnert sich niemand mehr daran.“

Yogeshwar rechnet damit, dass die Menschen die Pandemie möglichst schnell verdrängen werden, wenn sie überstanden ist. „Dann wird man bestimmte Namen und Gesichter mit dieser schlimmen Zeit assoziieren, und schlechte Zeiten will man vergessen.“ Der Medienprofi Yogeshwar hat Drosten schon im Frühjahr vorgewarnt. „Ich habe zu Christian gesagt: Jetzt wirst du gefeiert, am Ende wirst du verbrannt.“

Dieser habe ihn daraufhin ein bisschen verdutzt angesehen. „Aber ich glaube, inzwischen weiß er genau, was ich gemeint habe.“ (dpa, jtb)