Washington. Chanel Miller gibt ihre Anonymität auf und berichtet über sexuelle Gewalt an einer Elite-Uni. Ihre Aussagen sind zum Teil schockierend.

Viele der fast 500 Seiten dieses Buches sind wie ein Schlag in die Magengrube. Andere nehmen den Leser in den Würgegriff. Wieder andere lassen ihn den Kopf schütteln, stumm werden oder die Fäuste ballen. Chanel Miller hat kein einziges Detail ihrer jetzt auch in Deutschland erschienenen literarischen Traumaverarbeitung um die Geschichte einer Beinahe-Vergewaltigung und deren Folgen erfunden. „Ich habe einen Namen“ ist selbst erlitten.

Am eigenen Körper, der eigenen Seele, der am 17. Januar 2015 Wunden geschlagen wurden, die wohl nie ganz verheilen werden. An dem Tag geht Chanel Miller mit ihrer Schwester Tiffany auf eine Studentenparty der kalifornischen Elite-Universität Stanford. Die junge Frau, damals 22, betrinkt sich hemmungslos. Sie will draußen frische Luft schnappen. Dann reißt ihr Film. Stunden später wacht sie mit getrocknetem Blut im Haar und mit Pflastern an Händen und Armen im Beisein der Polizei und des Uni-Dekans im Krankenhaus auf.

Ihr wird zögerlich eröffnet, dass Carl-Frederik Arndt und Peter Lars Jonsson, zwei schwedische Studenten, sie in der Nähe des Party-Ortes gefunden haben. Hinter einem Müllcontainer. Halb nackt. Besinnungslos. Auf ihr liegend: Stanfords Olympia-Schwimm-Hoffnung Brock Turner.

Die Skandinavier halten den 19-Jährigen gewaltsam fest, bis die Polizei eintrifft. Ohne die Helfer, wird später die Staatsanwältin sagen, wäre es nicht bei der Penetration des Opfers mit den Fingern geblieben.

Der Täter wird zu drei Monaten verurteilt

Der Fall macht landesweit Schlagzeilen. Im März 2016 kommt es zum Prozess. Die Geschworenen sprechen Turner, der von Einvernehmlichkeit spricht und keine Schuld eingestehen will, wegen sexuellen Missbrauchs einer Bewusstlosen in drei Anklagepunkten für schuldig. Mögliche Maximalstrafe: 14 Jahre. Die Staatsanwaltschaft fordert sechs. Richter Aaron Persky lässt den Täter mit drei Monaten davonkommen. Zuvor hatte der Vater des Athleten den Richter angefleht: Eine lange Haftstrafe für seinen Sohn wäre „ein hoher Preis für eine 20-Minuten-Aktion“.

Miller, die zum Schutz den Kunstnamen Emily Doe trägt, ist wie paralysiert. In ihrem „Opferstatement“ nimmt die Frau mit chinesischen Wurzeln, die einen Uniabschluss in Literatur besitzt, ein Rechts- und Gesellschaftssystem auseinander, das ihren Peiniger mit Glacéhandschuhen anfasst. Während es für sie vor allem Misstrauen und Demütigungen bereithält.

Angefangen von der latenten Unterstellung, ihr exzessiver Alkoholkonsum habe das spätere Geschehen vielleicht provoziert. Bis zu den maximalinvasiven Verhör- und Untersuchungsmethoden mancher Ärzte, Ermittler und Strafverteidiger, die Miller immer wieder neu durch den erlittenen Missbrauch treiben.

Ihre Worte lassen frösteln

Die zwölfseitige Abrechnung des Opfers, das im Gerichtssaal wie ein Lavastrom alles unter sich lässt, landet über das Portal Buzzfeed im Internet. Es findet in wenigen Tagen über 15 Millionen Leser. Allein der Einstieg lässt frösteln: „Du kennst mich nicht, aber du warst in mir, und deshalb sind wir heute hier. Du hast mir meinen Wert genommen, meine Privatsphäre, meine Energie, meine Zeit, meine Sicherheit, meine Intimität, mein Selbstbewusstsein, meine eigene Stimme, bis heute.“

Aus aller Welt kommen Solidaritätsnoten. Aus Washington schreibt Vizepräsident Joe Biden. Prominente und Politiker lesen im Fernsehen und im Parlament Passagen aus dem Skript vor.

Dann hört Chanel Miller 2018 von der Kongressanhörung von Christine Blasey Ford in Washington. Die Professorin gibt an, in jungen Jahren von dem heutigen Richter am Supreme Court, Brett Kavanaugh, sexuell belästigt worden zu sein.

In dem öffentlichen Tribunal zeigt Ford Kraft und Haltung. Während der Top-Jurist ins Weinerliche abdriftet. Für Emily Doe der Auslöser zum Ausbruch aus der Anonymität. Miller zeigte ihr Gesicht und schrieb mit kiloweise Zorn ihre bis ins Mark gehende Geschichte auf, die in den USA die Bestseller-Listen schmückt. In Interviews erscheint eine Frau, die wieder lachen kann. Weil sie die Opferrolle abgestreift hat.

Richter Persky übrigens ist wegen seines Skandalurteils aus dem Amt gewählt und der Strafenkatalog für sexuellen Missbrauch in Kalifornien verschärft worden. Brock Turner flog von der Uni. Er bleibt bis ans Lebensende als Sexualstraftäter regis­triert. Er sollte Millers Buch lesen.