Berlin. Nicht einmal die Hälfte aller Abiturienten will gleich studieren. Denn die meisten wissen nicht, was sie wollen – und machen nichts.

Kurz vor dem Abitur hörte Olga Rogler (19) sehr oft dieselbe Frage. „Was machst du nach dem Abi? Was ist dein Berufswunsch“, fragten die Eltern, Bekannten, ja, sogar die Nachbarn der Großmutter. Und die Schülerin aus Tübingen schüttelte als Antwort immer nur den Kopf oder zuckte mit den Schultern. „Weil ich keinen Plan haben wollte“, erinnert sie sich.

Sie habe erst einmal herausfinden wollen, was sie tun möchte. Überhaupt. Im Leben. „Es gibt rund 19.000 Studiengänge an deutschen Unis. Wie soll sich ein Abiturient da sofort entscheiden, ohne ein Praktikum absolviert zu haben? Das ist nicht realistisch“, findet Olga Rogler.

Nach dem Abitur ausziehen? Lieber noch Hotel Mama

Mit ihrer Geisteshaltung entspricht sie dem Durchschnitt der diesjährigen Absolventen. Nur knapp 44 Prozent aller Abiturienten wollen direkt losstudieren. Zu diesem Ergebnis kam eine repräsentative Umfrage des Trendence-Instituts unter 21.000 Schülern in Deutschland. Der Hauptgrund dafür: Die meisten von ihnen wissen gar nicht, was und ob sie überhaupt studieren sollen.

Olga Rogler wusste nicht nach dem Abitur, was sie studieren soll oder ob überhaupt. Ging nach Berlin und jobbte.
Olga Rogler wusste nicht nach dem Abitur, was sie studieren soll oder ob überhaupt. Ging nach Berlin und jobbte. © Julia Sterthoff | Julia Sterthoff

„Abiturienten sind heutzutage unreifer und jünger als früher. Wohnen ist teuer, das heißt zwei Drittel bleiben zu Hause wohnen, das bindet noch einmal stärker an das Elternhaus, weil der finanzielle Druck nicht sofort da ist“, erklärt Ulrike Bartholomäus. Die heutige Generation seien mehr von den Eltern behütet und umsorgt, so dass der Auszug aus dem „Hotel Mama“ schwerfalle. Die Autorin brachte jetzt das Buch „Wozu nach den Sternen greifen, wenn man auch chillen kann?“ (Berlin Verlag) über die große Orientierungslosigkeit nach der Schule heraus. Darin erklärt sie, dass sogar junge Erwachsene mit Einser-Abschluss nach der Schule häufig blockiert seien.

Und wenn der Absprung gelingt, stehen für die Eltern die Chancen zumindest statistisch gut, dass der Zögling sich zum sogenannten „Boomerang-Kind“ entwickelt und wenig später wieder auf der Matte steht. Laut dem Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) bricht jeder dritte Student sein Studium ab, auch ein Viertel aller Lehren werden vorzeitig beendet.

Das echte Arbeitsleben hilft, den eigenen Weg zu finden

Abiturienten sind jünger als früher und finanziell abhängiger von den Eltern. Olga Rogler schriebt über die Zeit nach dem Abitur ein Buch: „Jetzt chill´ich erst mal und dann mach ich nichts)“.
Abiturienten sind jünger als früher und finanziell abhängiger von den Eltern. Olga Rogler schriebt über die Zeit nach dem Abitur ein Buch: „Jetzt chill´ich erst mal und dann mach ich nichts)“. © Kösel Verlag

Olga Rogler, die ihr erstes Jahr nach dem Abitur auch in einem Buch zusammenfasste („Jetzt chill’ ich erst mal und dann mache ich nichts“, Kösel), jobbte nach der Schule erst einmal in einem Bar-Restaurant in ihrer Heimat. Vieles fiel ihr plötzlich ein, was sinnvoll sein könnte, zum Beispiel, ein Freiwilliges Soziales Jahr zu machen. „Doch die Anmeldefristen waren vorbei“, erinnert sie sich. Also zog sie mit ihrem besten Freund Otto nach Berlin, machte dort ihren Führerschein, lernte das echte, harte Arbeitsleben und Mietezahlen kennen.

Olga Rogler jobbte fünf Tage die Woche in einem Backshop. Plötzlich war sie „ständig am Arbeiten“. Bei ihren Schichten stand sie entweder an der Kasse oder belegte Brötchen, wickelte Wraps oder wusch kiloweise Salat. Nach fünf Monaten merkte Olga schließlich, dass ihr „Input“ fehlte.

Experten raten Abiturienten: Nehmt euch Zeit

„Mir fiel auf, dass ich eigentlich sehr gerne lerne.“ Also schrieb sie sich in Heidelberg für Germanistik und Islamwissenschaften ein. Wie sich für Olga erwies – genau das richtige und der Beweis, dass das Leben schwer planbar ist. „Ich hätte mir zum Beispiel nicht träumen lassen, dass ich ab nächstem Semester ein Tutorium geben würde“, sagt die Studentin.

Tatsächlich hat sie das getan, wofür Experten wie Ulrike Bartholomäus werben: „Sich Zeit nehmen, kritisch darüber nachzudenken, was man wirklich will und dabei selbstständig zu agieren.“ Zum Beispiel alleine von zu Hause ausziehen, den „Papierkram“ und den Führerschein machen oder eine lange Reise unternehmen – und diese möglichst ohne die Eltern planen. Kindern und Jugendlichen würden heutzutage nämlich sämtliche Entscheidungen abgenommen. Die Eltern meinen es zwar gut, nehmen ihren Kindern dadurch aber die Möglichkeit, sich frei zu entwickeln, sagt Bartholomäus. Auch sei es deshalb an den Eltern, loszulassen.