Washington. Fast 8000 Betreuer sollen ihre Schutzbefohlenen bei den US-Pfadfindern missbraucht haben. Der Organisation droht eine Klagewelle.

„Jeden Tag eine gute Tat.“ Seit 109 Jahren ist das Motto der Pfadfinder fester Bestandteil der amerikanischen Folklore. Jungen im Alter zwischen sieben und 17 in Natur, Gemeinschaft und Knickerbocker-Hosen körperliche, geistige und emotionale Stärke und Charakterfestigkeit zu vermitteln, gehört für 2,3 Millionen Mitglieder der größten Jugendorganisation aus dem christlichen Spektrum zu einem Eckpfeiler ihrer Geschichte. Nicht nur der droht gerade irreparabel wegzubrechen.

Seit Jahren kämpfen die Boy Scouts, die sich 2018, um auch Mädchen aufnehmen zu können, in Scouts BSA umbenannten, mit der Aufarbeitung von sexuellen Missbrauchsfällen in den eigenen Reihen. Bereits 2010 musste die von dem Philantropen William Boyce gegründete Organisation aus Irving (Texas) in einem einzigen Fall im Bundesstaat Oregon 18,5 Millionen Dollar Schadensersatz zahlen. Ein Kleckerbetrag im Vergleich zu dem, was den Pfadfindern ins Haus stehen könnte, wenn jene Prozesslawine ins Rollen kommt, die sich seit wenigen Tagen abzeichnet.

Akten über Missbrauchsfälle sprengen alle bisher bekannten Dimensionen

Dreh- und Angelpunkt ist das Gutachten einer Professorin der Universität von Virginia, die eigens von den Boy Scouts beauftragt worden war, in das zu schauen, was die Organisation intern die „Akten über untaugliche Freiwillige“ nennt. Andere sprechen von den „Akten der Perversion“. Gemeint sind Männer, die sich bei Freizeiten als Betreuer an ihren Schutzbefohlenen vergriffen haben.

Was Janet Warren, Expertin für sexuellen Missbrauch, binnen fünfjähriger Kleinarbeit herausfand und was eher zufällig durch ein Gerichtsverfahren ans Tageslicht kam, sprengt alle bisher bekannten Dimensionen. Danach hatten die Boy Scouts seit den 1940er-Jahren bis 2016 mindestens 7819 Täter identifiziert – und 12.254 Opfer. Zögen davon viele vor Gericht und klagten auf finanzielle Wiedergutmachung, stünde die Pfadfinderbewegung nach Berichten amerikanischer Medien möglicherweise vor dem Ruin.

Dass sich die Lage für die Boy Scouts verschärft hat, liegt an der Gesetzgebung. Bundesstaaten wie New York haben die Verjährungsfristen bei Missbrauch von Kindern verlängert. Eine Maßnahme, die eigentlich gemünzt war auf die Skandale in der katholischen Kirche. Weitere Bundesstaaten wie New Jersey werden demnächst folgen. Bei der Abschlussrede zum Anti-Missbrauchsgipfel im Vatikan hatte Papst Franziskus zum Handeln aufgefordert.

Opfer bekennen sich endlich zu ihrem Leid

Dadurch haben Opfer wie Kendall Kimber einen neuen Weg gefunden, um ihr Leid öffentlich zu machen. Der heute im Rentenalter stehende Mann berichtete gegenüber US-Zeitungen, dass er in den 70er-Jahren von einem Betreuer bei den Boy Scouts mehrfach zu Oralsex gezwungen worden sei. Ebenso seine Brüder, von denen sich einer später das Leben genommen habe.

Aus Furcht, von den Pfadfindern ausgeschlossen zu werden, habe er geschwiegen, sagte Kimber.

Anwälte wie Tim Kosnoff oder Jeff Anderson haben sich das zunutze gemacht. Sie schalteten TV-Werbeanzeigen, eröffneten eine Internetseite und riefen Opfer auf, aus dem Schatten zu treten. Allein Anderson präsentierte vor wenigen Tagen 220 neue Klienten.

Kosnoff verspürt nach eigenen Worten besonderen Handlungsdruck, weil die Boy Scouts in Erwartung drohenden Unheils bereits Ende vergangenen Jahres eine Anwaltskanzlei damit beauftragt hatten, die Idee eines kontrollierten Bankrotts zu ventilieren. „Dadurch würden sich Schadensersatzklagen enorm verzögern“, sagte ein Anwalt in Washington dieser Zeitung, „viele Betroffene gingen wahrscheinlich leer aus.“

Missbrauchsfall in Lüdge sorgt für Aufregung

Auch in Deutschland sind die Behörden immer wieder mit Missbrauchsfällen konfrontiert. Im März hatte der Missbrauchsfall in Lüdge in Nordrhein-Westfalen für Schlagzeilen gesorgt. Nach bisherigen Erkenntnissen hatte es seit 2008 auf dem Campingplatz mehr als 1000 Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen gegeben. (Dirk Hautkapp)