Berlin. Beim„Schwarzwald-Tatort“ brennt eine 13-Jährige mit einem Erwachsenen durch. Die Handlung erinnert an einen realen Fall aus Freiburg.
„Ich sehe für dich, hör für dich. Ich lüge und ich schwör‘ für dich. Ich hol den blauen Mond für dich, für dich und immer für dich.“ Rio Reisers Kultsong „Für immer und dich“ gab es zum Ende des gleichnamigen „Schwarzwald-Tatorts“ in voller Länge zu hören.
Kein Wunder, dass sich Produzentin Franziska Specht, Drehbuchautor Magnus Vattrodt und Regisseurin Julia von Heintz ausgerechnet für den 1986 erschienen Song des früheren „Ton Steine Scherben“-Sängers Reiser als Krimi-Titel entschieden haben. Denn die Liebeshymne verstärkte noch einmal den faden Beigeschmack, den der „Schwarzwald-Tatort“ durch eine verbotene Liebe über 90 Minuten hinweg erzeugte.
In seinem dritten Fall musste das Freiburger Ermittlerduo Franziska Tobler (Eva Löbau) und Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) sich nicht wie zuletzt im Breisgau mit politischen Themen wie Waffenschmuggel oder Radikalismus herumschlagen.
Stattdessen suchten sie die 15-Jährige Emily Arnold – stark gespielt von der 18-jährigen Nachwuchsschauspielerin Meira Durand – die zwei Jahre vor der Handlung mit Martin Nussbaum (Andreas Lust), einem Mann in den 40ern, durchbrannte.
Der Fall erinnert an Maria H.
Die Geschichte von Emily ist fiktiv. Doch die Parallelen zu einem Fall, der hochaktuell ist, sind offensichtlich: Emily Arnold ähnelt sehr Maria H. Die mittlerweile 18-jährige Maria war 2013 mit einem 40 Jahre älteren Mann verschwunden. Im vergangenen September kehrte sie nach Freiburg zurück, ihr Begleiter, Bernhard H. wurde in Italien mit internationalem Haftbefehl festgenommen. In diesem Jahr wird voraussichtlich der Prozess gegen ihn beginnen. Als der „Tatort“ im August in Freiburg gedreht wurde, galt Maria noch als verschwunden.
„Realitätsnähe war uns von Anfang an ganz arg wichtig“, sagt „Tatort“-Produzentin Specht im SWR-Interview. Anscheinend war sie sogar so wichtig, dass es in vielen Punkten gar nicht so viel Kreativität brauchte, um die Geschichte zu erzählen.
Drei Parallelen zwischen dem fiktiven und dem realen Fall.
1. Die äußeren Umstände
Sowohl die reale Maria als auch die fiktive „Tatort“-Emily stammen aus Freiburg – sogar aus derselben Gegend. Der „Tatort“ wurde im Stadtteil Weingarten gedreht, Maria lebte nur wenige 100 Meter entfernt. Beide Mädchen eint auch das Alter: Mit 13 reißen sie von zu Hause aus. Im Gegensatz zu Emily, die ihre Mutter im „Tatort“ nach zwei Jahren wieder in die Arme schließt, dauerte Marias Verschwinden fünf Jahre lang an.
Beide verschlug es nach Polen. Im polnischen Gorlice fanden die Ermittler kurz nach dem Verschwinden von Maria das Auto von Bernhard H. Im „Tatort“ wiederum fanden Tobler und Berg die Fingerabdrücke von Emily auf einem Rätselheft aus Polen sowie ein polnisches Nummernschild.
Der Schwarzwald-Tatort“ in Bildern
Auch die Rolle der Mutter ist ähnlich. Marias Mutter Monika B. richtete auf einem Internetportal eine Suchplattform ein und kritisierte die Polizei, zu wenig zu tun. In diese Kerbe schlägt auch Michaela Arnold (Kim Riedle) im „Tatort“.
2. Die soziale Abhängigkeit
Warum reißt ein junges Mädchen von zu Hause aus, um mit einem Mann, der ihr Vater sein könnte, zusammen zu leben? Im Fall Maria sah die Betroffene in Bernhard H. nach eigener Aussage jemanden, der ihr helfe, ihren Problemen zu entkommen. „Vor allem als ich jünger war, als ich 12 war, habe ich etwas anderes in ihm gesehen als er in mir. Und da war er für mich der, der mich verstanden hat und zu dem ich konnte, wenn ich Probleme hatte, mit dem ich reden konnte“, sagte Maria im November im RTL-Interview.
Laut ihrer Aussage habe ihr Begleiter sie manipuliert, indem er ihr weis machte, dass sie bei einer Rückkehr nach Deutschland ins Jugendheim und er ins Gefängnisse komme. „Was er gesagt hat, war für mich die eine Wahrheit. Ich habe gar nicht versucht, das zu hinterfragen“, sagte Maria gegenüber RTL. Angeklagt ist Bernhard H. auch wegen schweren sexuellem Missbrauchs. Öffentlich äußerte sich Maria dazu nicht. Aufgeflogen sei das Duo nicht, da sie sich in Italien als Vater und Tochter inszeniert hatten.
Soziale Abhängigkeit von einem Menschen ist ebenso im „Tatort“ ein großes Thema. Emily entflieht durch Nussbaum, der sie mit Freundlichkeit und einem Hundewelpen ködert, dem Leben in Freiburger Hochhausbauten. Sie klammert sich an ihn, lässt sich über Handykonsum belehren und lotet Grenzen aus. Es mutet nach einem Vater-Komplex an, nicht nur, weil Emily in der Öffentlichkeit Nussbaum als ihren Vater darstellt. Nussbaum wiederum passt ins Schema eines Mannes mit Lolita-Komplex, der das sexuelle Verlangen von älteren Männern nach jungen Frauen beschreibt.
Besonders deutlich wird das gegenseitige Verhältnis im „Tatort“ mit zwei Videos dargestellt, die sich Emily auf dem Laptop ansieht. Im ersten Video verspricht Nussbaum fröhlich, dass sie ans Meer fahren werden, die junge Emily knuddelt auf der Rückbank des Autos mit Hund Luno. Es ist eine fröhliche Szene, Emily lächelt. Das zweite Video ist ein Sexvideo der Beiden. Als Emily es sieht, schlägt sie die Hände über den Kopf zusammen und versteckt diesen zwischen ihren Knien. Kurz zuvor hatte Nussbaum Emily bedrängt und fast vergewaltigt, als sie seinen sexuellen Avancen eine Abfuhr erteilte.
3. Die Konsequenzen
Dass sich Marias Verschwinden nach so langer Zeit aufklärte, war außergewöhnlich. Die „Initiative vermisste Kinder“ weist in einer Präventionsfibel darauf hin, dass die ersten Stunden bei der Suche entscheidend sind. Insgesamt ist es so, dass die meisten Vermisstenfälle nach kurzer Zeit aufgeklärt werden können.
Laut Bundeskriminalamt werden täglich im Schnitt mehr als 300 Fahndungen neu erfasst und auch gelöscht. Binnen eines Monats seien 80 Prozent der Fälle geklärt, nur drei Prozent werden über ein Jahr hinaus vermisst. Bis zu 30 Jahre bleibt eine Personenfahndung bestehen. Zwischen 2013 und 2018 gab es 6230 verschwundene Kinder, bis auf 47 Fälle konnten alle aufgeklärt werden.
Marias Begleiter Bernhard H. wird nun Kindesentzug und schwerer sexueller Missbrauch vorgeworfen. „Ich fühle mich im Nachhinein als Opfer, weil er es von Anfang an hätte wissen müssen, dass alles dadurch nur noch schlimmer wird – und das man nicht so lange wegbleiben kann, dass sich alles in Luft auflöst. Er wäre ins Gefängnis gekommen, so oder so“, sagte Maria im Interview.
Auch im „Tatort“ wird Nussbaum letztlich festgenommen. Die Konsequenzen auf sexuellem Missbrauch fallen oft drastisch aus. Sex mit Kindern, also unter 14-Jährigen, ist eine Straftat und wird mit bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe geahndet. Ebenfalls strafbar sind sexuelle Handlungen mit Jugendlichen im Alter von 14 bis 16 Jahren. Beim „Tatort“ kam noch erschwerend hinzu, dass Nussbaum den Akt filmte. Auch das Erstellen und der Besitz von Kinderpornografie sind strafbar – mit bis zu drei Jahren Freiheitsentzug.