Stockholm/Berlin. Die Jury gibt im Oktober bekannt, wer den Nobelpreis gewinnen wird. Bisher bekamen viele Amerikaner den Preis – Das könnte sich ändern.

Als der deutsche Forscher Harald zur Hausen vor etwa vier Jahrzehnten entdeckte, dass humane Papillomviren (HPV) Gebärmutterhalskrebs auslösen können, war das eine wissenschaftliche Sensation. Seine Arbeit führte zur Entwicklung eines Impfstoffs für Mädchen. 2008 erhielt er dafür den Medizin-Nobelpreis. Im Juni empfahl die Ständige Impfkommission, auch Jungen zwischen 9 und 14 Jahren gegen HPV zu impfen. Seit etwa einer Woche zahlen die gesetzlichen Krankenkassen diese Impfung. Harald zur Hausen hat lange dafür gekämpft.

Der gebürtige Gelsenkirchener ist ein Forscher, der Alfred Nobel gefallen hätte. Der 1896 verstorbene Schwede – Chemiker und Erfinder des Sprengstoffs Dynamit – hat verfügt, dass nach seinem Tod Menschen ausgezeichnet werden sollen, die der Gesellschaft mit ihren Entdeckungen großen Nutzen gebracht haben. Dafür ließ er postum eine Stiftung gründen. 1901 wurde sein Wille erstmals umgesetzt, seitdem gilt der Nobelpreis als wichtigste Auszeichnung in Wissenschaft und Gesellschaft. Ab Montag werden die Preisträger einmal mehr bekannt gegeben.

Vor zehn Jahren war Harald zur Hausen ein würdiger Gewinner. Doch ganz typisch war der Mediziner nicht. Zwar war er – wie die meisten Geehrten – mit über 70 ein älterer Mann, doch zur Hausen ist Europäer, der viel in Deutschland forschte. Und schaut man in die Nobelpreis-Geschichte, zeigt sich, dass die schlausten Köpfe der Welt seit mehr als 100 Jahren eher in Amerika sitzen.

Seit 1901 haben Wissenschaftler von 127 US-amerikanischen Forschungsinstituten in den Kategorien Physik, Chemie, Medizin und Wirtschaft 369 Nobelpreise abgeräumt. Das ist mehr als die Hälfte aller vergebenen Auszeichnungen. In derselben Zeit bekamen Forscher von 54 deutschen Instituten 72 Nobelpreise. Auch im vergangenen Jahr waren acht der elf Preisträger US-amerikanische Staatsbürger.

Die Kurve zeigt klar nach unten

Doch die Dominanz der USA droht zu schwinden. Die Zeit der großen US-amerikanischen Erfindungen könnte zumindest in den Nobeldisziplinen langsam zu Ende gehen, meint der Frankfurter Physiker Prof. Claudius Gros. Er hat die Nobelpreise ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl der Länder gesetzt, deren Staatsangehörigkeit die Gewinner zur Zeit der Preisvergabe hatten. Die Kurve der Vereinigen Staaten zeigt klar nach unten – seit 1972.

„Davor standen die USA wissenschaftlich in voller Blüte“, sagt Gros – die Zeit der ersten Mondlandung und großer Entdeckungen. Noch immer sei die „Produktivität“ der US-Wissenschaftler zwar relativ hoch und deutlich höher als die von Deutschland, „aber nach der Vorhersage wird sich das in zehn Jahren ändern“, sagt der Physiker. 2025 hätten deutsche Wissenschaftler demnach bessere Chancen auf einen Nobelpreis als amerikanische. Am meisten aber würde mit Blick auf die Einwohnerzahl Großbritannien abräumen.

Dass die US-Forschung schlechter geworden ist, muss das laut Gros nicht unbedingt bedeuten. Die Wissenschaftler dort konzentrierten sich aber inzwischen weniger auf Physik, Chemie oder Medizin, wo wissenschaftlicher Fortschritt schwieriger wird. „Sie machen lieber Informatik und künstliche Intelligenz, wo die Post noch richtig abgeht. Wo auch mehr Geld zu verdienen ist“, sagt Gros. Bloß gibt es dafür eben keine Nobelpreise.

Nur 48 der fast 900 Nobelpreisträger waren weiblich

Für Deutschland kam das Erbe von Alfred Nobel der Statistik zufolge ein paar Jahre zu spät. Die produktivste Zeit der deutschen Wissenschaft sei die Gründerzeit gewesen, sagt Gros. Schon bevor 1901 der erste Nobelpreis vergeben worden ist, sei es abwärts gegangen. Dann flohen ab 1933 zudem zahlreiche hervorragende Wissenschaftler vor der Herrschaft der Nationalsozialisten aus Deutschland.

„Ich vermute, dass die Produktivität ohne die Auswanderung größer wäre, als sie heute ist“, sagt Gros. Eindeutig zu sehen ist, dass deutsche Wissenschaftler bis etwa 1940 in absoluten Zahlen gesehen mehr Auszeichnungen einheimsten als die amerikanischen oder britischen, vor allem in Physik und Chemie. 1943 begann dann die nur noch selten unterbrochene Siegesserie der US-Universitäten.

Ihren eigenen Landsleuten scheinen die skandinavischen Nobeljurys in Stockholm und Oslo dagegen ungern Preise zu geben. Und Frauen auch nicht. Nur 48 der fast 900 Nobelpreisträger waren weiblich. Marie Curie hat zwei erhalten – für Physik und Chemie.

Im vergangenen Jahr äußerte die Königliche Wissenschaftsakademie deswegen ihre Sorge: „Ich vermute, dass es viel mehr Frauen gibt, die es verdienen, für den Preis berücksichtigt zu werden“, sagte der Vorsitzende Göran Hansson. Auch die Geografie sprach er an. „Ich hoffe, dass wir in fünf oder zehn Jahren eine ganz andere Verteilung sehen.“ 2017 ging der Physik-Nobelpreis an drei ältere Amerikaner.

Wissenschaft ist wie Olympia

Ein Land, das sich jahrzehntelang nach einem Nobelpreis für wissenschaftliche Leistungen sehnte, musste bis 2015 darauf warten und spielt in Gros’ Statistik keine Rolle: China. Youyou Tu bekam die Auszeichnung für Medizin, weil sie einen Wirkstoff gegen Malaria entdeckt hatte, der in den vergangenen 40 Jahren Hunderten Millionen Menschen beim Überleben half und den in Asien viele für so wichtig wie das Penizillin halten.

Nur ein „echter“ Nobelpreis seit 1901: Das Reich der Mitte aber hat klar das Ziel ausgegeben, aufholen zu wollen. China will bis 2050 zur „führenden Wissenschaftsmacht der Welt“ aufsteigen. Das hat die Regierung in einer nationalen Richtlinie festgelegt. Und das hat Forschungsminister Wan Gang im Fe­bruar bekräftigt. „Seit 2012 haben sich die Investitionen in Forschung und Entwicklung um mehr als 70 Prozent erhöht“, sagte er.

Laut Berechnungen der Nachrichtenagentur Reuters summierten sich die chinesischen Forschungsausgaben 2017 auf 226 Milliarden Euro oder 2,1 Prozent der Wirtschaftsleistung. Laut Weltbank kamen die USA 2015 auf 2,8 Prozent, Deutschland auf 2,9 Prozent und Japan sogar auf 3,3 Prozent. Bis 2020 will China aber weiter aufstocken. Und erst im März hat die Regierung angekündigt, in den nächsten Jahren ein bis zwei wissenschaftliche Großprojekte mit internationaler Strahlkraft zu realisieren.

Über kurz oder lang will China die USA überholen – wie beim Sport. Das jedenfalls kündigte schon 2005 der damalige Direktor eines Instituts für Biophysik an. Einer Journalistin sagte er: „Wissenschaft ist wie Olympia.“

Wann wird welcher Preis vergeben?

Im Oktoberwerden die Nobelpreisträger 2018 verkündet. Es beginnt am Montag, 1. Oktober, mit dem für Medizin. Es folgen am 2. Oktober der Preis für Physik, am 3. der für Chemie, am 5. für Frieden und am 8. für Wirtschaft.

Der Literaturnobelpreis wird in diesem Jahr entfallen. Der Grund dafür: Belästigungs- und Korruptionsvorwürfe haben die Jury der Schwedischen Akademie, die diesen Preis vergibt, in eine schwere Krise gestürzt.