Berlin. Im August 1998 trat in Deutschland die Rechtschreibreform in Kraft. Von den ursprünglichen Ideen der Reformer ist kaum etwas geblieben.

Nie wieder in diesem Jahrhundert werde sich in Deutschland jemand an eine Reform der Rechtschreibung wagen. Heinz-Peter Meidinger ist sich da ziemlich sicher. „Das war eine heiße Zeit“, erinnert sich der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes an die Jahre rund um die Reform, die Mittwoch vor 20 Jahren in Kraft getreten ist: Lehrer, die aus Protest aus Verbänden austraten, Schriftsteller wie Günter Grass oder Martin Walser, die in einer Resolution zum Boykott der Reform aufriefen, Zeitungen, die tatsächlich boykottierten.

Das Bundesverfassungsgericht musste darüber urteilen, ob die Reform verfassungsgemäß ist. Mancher hob an zu einer Rede über den Verfall der deutschen Kultur – die „Gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ versetzte Deutschland in Aufruhr. Oder Aufrur, wie es nach der Reform auch hätte heißen können.

Bildungsbarrieren sollten abgebaut werden

Die Idee, die bereits seit den 1980er-Jahren diskutiert wurde, war eine Vereinfachung der Rechtschreibung. Stärker lautorientiert, weniger etymologisch. Keiser statt Kaiser. Bot statt Boot. Man wollte Bildungsbarrieren abbauen, Kindern aus bildungsfernen Familien oder mit Migrationshintergrund das Schreibenlernen erleichtern.

So zog man anfangs auch in Erwägung, die sogenannte gemäßigte Kleinschreibung einzuführen: Am Satzanfang und Eigennamen groß, alles andere klein. „Man hat sich gefragt: Was sind die Fehlerquellen in der deutschen Sprache und wie kann man sie beseitigen“, sagt Meidinger, der damals als Experte bei der mündlichen Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht dabei war. Die meisten Fehler entstanden bei Dehnung (tragen, Fahne) und Schärfung (Stoff, Schiff), Zusammen- und Getrenntschreibung, Groß- und Kleinschreibung, Kommasetzung und Fremdwörtern.

Seit 1901 auf der Orthografischen Konferenz in Berlin die Regeln zur deutschen Rechtschreibung zum ersten Mal vereinheitlicht worden waren, hatte sich niemand an einer grundsätzlichen Überarbeitung versucht. Allein der Duden, der ein Quasi-Monopol innehatte, passte Wörter und Regeln mit jeder Ausgabe an aktuelle Entwicklungen an. Er gab die Rechtschreibung vor. Mit der Wiener Absichtserklärung zur Rechtschreibreform im Jahr 1996, unterschrieben von Deutschland, Österreich, Schweiz, Liechtenstein und anderen Ländern mit deutschsprachigen Bevölkerungsteilen, war Schluss mit dem Duden-Monopol. Nun sollte gelten, was die Kultusminister beschlossen hatten.

Viel blieb von der ursprünglichen Idee der Reformer nicht übrig

Doch so einfach war es nicht. „Die Debatte war extrem emotional und ideologisch aufgeladen“, erinnert sich Professor Peter Schlobinski, Vorsitzender der Gesellschaft für Deutsche Sprache. Tradition und kulturelle Identität hätten dabei eine große Rolle gespielt. „Damals haben viele die sprachwissenschaftlichen Argumente nicht verstanden. Aber andererseits muss nicht alles, was linguistisch plausibel ist, auch umgesetzt werden“, sagt Schlobinski.

Viel blieb am Ende von den ursprünglichen Ideen der Reformer nicht übrig. Es wurde weiterhin groß- und kleingeschrieben. Das Boot durfte sein zweites „o“ behalten. Die meisten, die vor der Reformzeit Lesen und Schreiben gelernt haben, erinnern sich wohl noch, dass aus „ß“ „ss“ wurde – oft, nicht immer. Dass Schifffahrt fortan mit drei statt zwei „f“, dafür aber Mittag weiterhin mit zwei „t“ geschrieben werden konnte. Und dass in der 22. Auflage des Dudens, des „Reformdudens“, die neue Schreibweise rot markiert war.

Kurz: Die Änderungen, die am 1. August 1998 in Kraft traten und dann noch einmal 2006 in einer Reform der Reform überarbeitet wurden, waren geringfügig. „Der große Aufschlag ist immer kleiner geworden“, sagt Meidinger. „Nimmt man die Regeln zur Trennung von Worten aus, betrifft die Reform zwei Prozent des Wortschatzes.“

Die meisten Fehlerquellen sind geblieben

Der Germanist und Reformkritiker Professor Theodor Ickler schrieb 2001 sogar, dass sich – nehme man die ss-Schreibung aus – vielleicht nur 0,05 Prozent der Wortschreibungen eines normalen Textes verändert hätten. Und Neuschreibungen wie Quäntchen, behände, Ständelwurz, Frigidär, Bonboniere, Nessessär usw. seien irrelevant, weil solche Wörter in Schülertexten nicht vorkämen.

„Man kann schon die Frage stellen, ob sich der Aufwand und das Geld für das, was am Ende übrig geblieben ist, gelohnt hat“, sagt auch Meidinger. Natürlich habe es in der alten Rechtschreibung Dinge gegeben, die man besser regeln konnte, etwa bei der Kommasetzung. „Die Zahl der Pflichtkommata hat man deutlich zurückgefahren“, sagt Meidinger, „und hier werden heute auch weniger Fehler gemacht.“ Doch die meisten Fehlerquellen seien geblieben.

Einige Widersprüche der alten Schreibung wurden zwar ausgeräumt, aber es kamen neue hinzu. So schrieb man früher zwar „erhalten bleiben“ getrennt, „bestehenbleiben“ jedoch zusammen. Das hat man behoben, heute wird beides getrennt geschrieben. Dafür heißt es in der neuen Schreibung „wohlriechend“, aber auch „übel riechend“.

Jeder Fünfte erreicht nicht den Mindeststandard beim Schreiben

Die Reform also ein Flop? Meidinger mahnt zu Besonnenheit auf beiden Seiten, bei Befürwortern und Kritikern, deren Gemüter zum Teil bis heute erhitzt sind. Denn auf der einen Seite sei es illusorisch gewesen zu glauben, die Rechtschreibung könne kinderleicht werden. Auf der anderen Seite sei durch die Reform auch nicht der Kulturverfall eingeleitet worden, wie ihn mancher Kritiker vermutet hatte.

Welche Auswirkungen die Reform auf die Schreibfähigkeit von Schülern hatte, darüber wird noch heute gestritten. Im Oktober 2017 kam eine Studie im Auftrag der Kultusministerkonferenz zu dem Ergebnis, dass die Viertklässler in Mathe, beim Zuhören und auch in Rechtschreibung binnen fünf Jahren in Deutschland im Schnitt schlechter geworden sind.

Demnach erreichte mehr als jeder fünfte nicht den Mindeststandard beim Schreiben, zehn Prozent mehr als 2011. „Aber hier spielen ganz andere Faktoren als die Reform der Rechtschreibung eine Rolle“, sagt Schlobinski. Soziale Faktoren und Bildungsdefizite sowie die Digitalisierung. „Orthografiedefizite mit der Reform zu koppeln, halte ich für widersinnig.“ Es gebe keine Studie, die einen kausalen Zusammenhang beweise.

Ohne gute Rechtschreibung gab es keine gute Note

Auch Meidinger sieht nicht in der Reform die Ursache. Rechtschreibung habe heute einfach einen anderen Stellenwert. „Vor dem Krieg und in den 50er- und 60er-Jahren war Rechtschreibung ein Kern des Deutschunterrichts.“ Ohne eine gute Rechtschreibung konnte es keine gute Note geben. Das ist heute anders. „Ist der Inhalt gut, die Rechtschreibung schlecht, dann wird die Gesamtnote noch immer meist als zufriedenstellend bewertet.“

An eine Überarbeitung der aktuellen Rechtschreibung sollte sich jedenfalls so schnell niemand mehr wagen, findet Schlobinski. „Der Drops ist gelutscht.“

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