London/Berlin. Ein Forscherkollektiv aus London rekonstruiert Militärschläge, Kriminalfälle, Terrorakte. Ihr größtes Projekt war einer der NSU-Morde.

Rund 30 Millionen Euro hat er gekostet, an mehr als 430 Verhandlungstagen sind vom Gericht über 600 Zeugen befragt worden, jetzt geht er zu Ende: Der Prozess um die Verbrechen der Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ – kurz NSU – ist wohl einer der wichtigsten der deutschen Nachkriegszeit.

Christina Varvia hat sich tief in das Thema, den Mord an neun Migranten und einer Polizistin im Zeitraum von 2000 bis 2007, hineingearbeitet. „Manchmal bin ich morgens aufgewacht“, sagt die 29-Jährige, „und das Erste, woran ich dachte, war der NSU.“

Varvia ist Vizechefin einer unabhängigen Forschergruppe namens Forensic Architecture, die am Goldsmiths College der Universität in London beheimatet ist. Ihr Hauptgeschäft besteht darin, Militäraktionen, Unglücke oder große Kriminalfälle zu untersuchen, bei denen Interessen des Staates einer Aufklärung entgegenstehen. Sie haben Luftschläge der Israelis auf Gaza untersucht, Drohnenangriffe in Pakistan oder einen versuchten Völkermord in Guatemala.

Zugreifen auf alle öffentlich verfügbaren Daten

Bei ihrer Arbeit greifen die Anwälte, Architekten, Computerspezialisten, Wissenschaftler oder Journalisten auf sämtliche Daten zu, die öffentlich verfügbar sind. Sie kombinieren sie, um zu klären, was genau passiert ist.

Laut Gründer Eyal Weizman – einem Architekten aus Israel – sei es heutzutage schwer, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. „Fake News“ und staatliche Propaganda bekämen immer mehr Einfluss. Um dem Fakten und wissenschaftliche Beweise entgegenzustellen, hat Weizman 2011 das Forscherkollektiv aufgebaut.

Blutige Spur des Neonazi-Terrors: Das ist der NSU

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    Im Jahr 2014 übernahm das Team um Christina Varvia den Fall eines der NSU-Morde. Beauftragt wurde es vom Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“, das vor allem Opferinteressen vertritt. „Wir haben uns den Mord an Halit Yozgat vorgenommen, weil bis heute die Rolle des Staates nicht eindeutig ist“, sagt Varvia. Es wurde ihr größtes Projekt. Neun Monate dauerte die Arbeit, mehrere Mitarbeiter zogen dafür nach Berlin und reisten oft nach Kassel.

    Verfassungsschützer sitzt im Hinterzimmer

    Halit Yozgat war 21 Jahre alt, als er am 6. April 2006 im Vorraum seines Kasseler Internetcafés erschossen wurde. Im Hinterzimmer, so die Ermittler, saß zum Tatzeitpunkt Andreas Temme, ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes. Der gab zu Protokoll, nichts gehört zu haben. Tatsächlich sollen die Täter Schalldämpfer benutzt haben. Temme sagte außerdem aus, er habe in dem Café privat auf einem Flirtportal gechattet. Damit seine Frau nichts erfahre, habe er sich nicht als Zeuge der Tat gemeldet.

    Temme will am Tattag durch den Vorraum nach draußen gegangen sein, ohne den sterbenden Halit Yozgat hinter dem Schalter gesehen zu haben. Er habe ein 50-Cent-Stück aufs Pult gelegt und sei gegangen. Etwas anderes konnte Temme lange nicht nachgewiesen werden. Dennoch wurde gegen den Ex-Verfassungsschützer wegen wissentlicher Falschaussage ermittelt.

    Varvia und ihr Team mussten bei ihrer Recherche zu ungewöhnlichen Mitteln greifen, wobei ihnen das Haus der Kulturen der Welt in Berlin half. „Wir bauten den Tatort in Originalgröße nach, die gesamten 77 Quadratmeter des Internetcafés“, sagt die Griechin. Denn der Ort existiert nicht mehr, heute steht dort ein Honiggeschäft.

    Forscher werten Browser-Geschichte von Internetcafé-PC aus

    Anschließend rekonstruierte Forensic Architecture die zentralen neuneinhalb Minuten kurz nach 17 Uhr an jenem 6. April 2006, in denen Halit Yozgat ermordet wurde. Sie nutzten Metadaten, die für sie legal verfügbar waren: zugespielte Polizeiakten, Aussagen von Zeugen vor Ort, Tatortfotos sowie die Browser-Geschichte des Computers, den Andreas Temme im Internetcafé benutzt hatte.

    Eine der wichtigsten Quellen aber war Temme selbst: Es gibt ein Video, das den 1,94 Meter großen Mann bei einer Ortsbegehung zeigt. „Wir haben dieses Video mit einem Schauspieler nachgestellt“, sagt Varvia. „Und so konnten wir beweisen, dass er den toten Körper hinter der Theke gesehen haben muss.“

    Forensic Architecture bezweifelt Wahrheitsgehalt von Temmes Aussage

    Auch Temmes Behauptung, den Schuss nicht gehört zu haben, habe nicht standgehalten: „Akustik-Experten haben uns nachweisen können, dass das Geräusch so laut war, dass es Tote hätte aufwecken können.“ All diese Ergebnisse haben die Rechercheure visualisiert und daraus eine Ausstellung gemacht.

    Forensic-Architecture-Gründer Eyal Weizman war schon immer der Auffassung, dass Forensik auch eine Kunstform ist. Auf der Internetseite der Gruppe kann man sehen, dass sie die einzelnen Fakten zu kunstvollen Grafiken und 3D-Objekten zusammenstellen, die sich häufig stufenlos vergrößern und neu zusammensetzen lassen.

    Sie stellte ihre Arbeit unter anderem auf der Documenta 2017 in Kassel aus – und zuletzt in einem Museum in London. Mittlerweile ist Forensic Architecture sogar für den renommierten britischen Turner-Kunstpreis nominiert, der im September in London vergeben wird.

    Vor Gericht wurde die Arbeit nicht verwendet

    Im Falle des NSU-Prozesses aber wurde der Gruppe die Verbindung in die Kunstwelt zum Verhängnis. Politiker warfen ihr vor, sie sei nicht ernst zu nehmen. Die Ermittlungen gegen Ex-Verfassungsschützer Temme wurden eingestellt. Vor Gericht wurde die Arbeit von Forensic Architecture nicht verwendet.

    Forensic Architecture arbeitet zurzeit an der Aufklärung des Brandunglücks vom Londoner Grenfell-Tower.
    Forensic Architecture arbeitet zurzeit an der Aufklärung des Brandunglücks vom Londoner Grenfell-Tower. © Forensic Architecture | Forensic Architecture

    Für Christina Varvia ist die Akte NSU noch nicht geschlossen, Forensic Architecture aber arbeitet inzwischen an anderen Projekten, etwa der Aufklärung des Brandunglücks vom Londoner Grenfell-Tower. Bei diesem Unglück starben vor fast einem Jahr 72 Menschen, es entfachte eine Diskussion über illegale Einwanderer und vertuschte Baumängel.

    Auch hier sichteten die Rechercheure Tausende Handy-Videos und Augenzeugen-Berichte. Es ist das erste Projekt, das die Agentur in ihrer Heimat bearbeitet. Und es ist das erste, das sie komplett selbst finanziert. Für die Ergebnisse dürften sich viele Briten interessieren.