London. Nach ersten Einschätzungen ist das in Südengland vergiftete Paar nicht Opfer eines Anschlags geworden. Der Zufall könnte Schuld sein.

Vier Monate nach dem Giftanschlag auf die Skripals sind wieder ein Mann und eine Frau durch den Kampfstoff Nowitschok vergiftet worden. Das teilte Scotland Yard am späten Mittwochabend mit. Das britische Paar liegt in derselben Klinik im südenglischen Salisbury wie damals der ehemalige russische Doppelagent Sergej Skripal (67) und seine Tochter Julia (33).

Bei den Opfern handelt es sich nach Polizeiangaben um einen 45-Jährigen und eine 44-Jährige aus der Region. Zunächst sei die Frau am Samstag kollabiert, später mussten die Ärzte auch den Mann ins Krankenhaus bringen.

Unter dem Begriff Nowitschok läuft eine ganze Gruppe eines bestimmten Nervengifts, das nach Hautberührung oder Einatmen binnen 30 Sekunden bis zwei Minuten Folgen beim Opfer zeigt.

Unabsichtliche Berührung möglich

Anders als zunächst vermutet, soll das Paar aber nicht Opfer eines gezielten Anschlags geworden sein. Das teilte der britische Sicherheitsstaatssekretär Ben Wallace am Donnerstag dem Sender BBC mit. Experten halten es für möglich, dass der Mann und die Frau mit einem kontaminierten Gegenstand in Kontakt kamen, der beim Anschlag auf die Skripals genutzt worden war. Nach aktuellem Stand hatte das Gift dieselbe Zusammensetzung wie im Fall Skripal.

„Das damals verwendete Nowitschok war sehr rein – und das erhöht die Lagerfähigkeit“, sagte der Chemiewaffenexperte Ralf Trapp der Deutschen Presse-Agentur. Die bei den Skripals verwendete Substanz war Trapp zufolge ein hochgereinigter Kampfstoff aus einem Labor, der noch viele Jahre wirksam sein könnte. Daher sei es durchaus denkbar, dass im neuen Fall das Paar etwa mit Nowitschok-Resten an einem Transportgefäß unabsichtlich in Berührung gekommen sei.

„Bislang ist das aber nur ein Szenario. Es fehlen noch Fakten“, betonte der Toxikologe und Chemiker, der als unabhängiger Berater unter anderem für die Organisation für ein Verbot von Chemiewaffen (OPCW) und die Vereinten Nationen arbeitete.

Nachricht versetzt Bevölkerung in Angst

Die lebensbedrohliche Vergiftung des Paares löst neue Ängste bei den Menschen in der Region aus. „Wir dürfen den Effekt nicht unterschätzen, der von der schockierenden Nachricht eines zweiten solch schweren Vorfalls binnen derart kurzer Zeit ausgeht“, warnte der Polizeichef der Grafschaft Wiltshire, Kier Pritchard, in der Nacht zum Donnerstag.

Gefahr für Gesundheit der Öffentlichkeit befürchtet

Im vergangenen März waren Teile der Innenstadt von Salisbury abgeriegelt worden, nachdem die Skripals mit dem Kampfstoff vergiftet worden waren. Sie saßen bewusstlos auf einer Parkbank. London bezichtigte Moskau als Drahtzieher der Tat.

Nowitschok war in der früheren Sowjetunion hergestellt worden. Das Attentat löste eine schwere internationale Krise aus. Zahlreiche westliche Staaten, auch Deutschland, wiesen Dutzende russische Diplomaten aus. Moskau reagierte mit ähnlichen Maßnahmen. Die Skripals leben inzwischen an einem unbekannten Ort.

Nach dem jüngsten Vorfall wurden einige Bereiche in Salisbury und in dem Wohnort des Paares, Amesbury rund 13 Kilometer weiter nördlich, vorsichtshalber abgesperrt. Die Gesundheitsbehörde ging zunächst nicht von einer „bedeutenden Gesundheitsgefährdung“ für die Öffentlichkeit aus. Das Paar soll unter anderem eine Veranstaltung in einer Kirche besucht haben, bevor es am Samstag erkrankte.

Julia Skripal hofft auf Rückkehr in ihre Heimat Russland

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    Polizei ging zunächst von Drogen-Fall aus

    Die Beamten waren zunächst davon ausgegangen, dass die beiden möglicherweise verunreinigtes Heroin oder Crack-Kokain eingenommen haben könnten und sich daher im kritischen Zustand befinden.

    Das Forschungslabor für Chemiewaffen im nahe gelegenen Porton Down war mit in die Untersuchungen einbezogen worden. Dort war auch das Nervengift Nowitschok im Fall Skripal identifiziert worden. Unabhängige Untersuchungen der Organisation für ein Verbot der Chemiewaffen (OPCW) bestätigten damals das Ergebnis.

    Amesbury liegt ganz in der Nähe des Unesco-Weltkulturerbes Stonehenge. Bewohner des Ortes waren verunsichert und forderten mehr Informationen von den Behörden. „Uns hat die Polizei nichts erzählt“, zitierte die Nachrichtenagentur PA Justin Doughty. (dpa)