Kandel/Landau. Im Dezember 2017 wurde Mia getötet – wohl von ihrem afghanischen Ex-Freund. Die kleine Stadt in Rheinland-Pfalz ist noch traumatisiert.

Stefanie B. steht im Juni 2018 am Bahnhof Kandel mit zwei Freundinnen und raucht eine Zigarette nach der anderen. Mias Tod belaste sie immer noch, sagt sie. Vor einem halben Jahr wurde ihre Freundin mutmaßlich von dem jungen afghanischen Flüchtling Abdul D. erstochen. Er soll ihr Ex-Freund gewesen sein.

Mia starb nicht weit von diesem Bahnhofsvorplatz am 27. Dezember 2017. Abdul D. soll ihr hier aufgelauert haben – mit einem Brotmesser, das er zuvor gekauft hatte. Siebenmal, heißt es, habe er auf Mia eingestochen. Es war halb vier am Nachmittag. Mia wurde nur 15 Jahre alt.

Seit einem halben Jahr kennt fast die ganze Republik diesen Vorplatz gleich bei der Gaststätte Gleis 3. Der Platz ist so etwas wie das Herz der Stadt, und genau hier kam es zu diesem schlimmen Verbrechen.

Einige Bewohner bleiben nun öfter lieber zu Hause

Wer die Stadt per Zug bereist, kommt nicht an dem Tatort vorbei. Kandel, dieser 9000-Seelen-Ort in der Pfalz, mit Flammkuchen und Apfelwein, mit Fachwerkhäusern und Kopfsteinpflaster – diese 900 Jahre alte Stadt wurde in kurzer Zeit zum Symbol für zwei Konflikte, die das Land seit Jahren umtreiben: die Flüchtlingskrise und die Angst vor dem Islam.

Doch wie gehen die Einwohner damit um? Eine Frau erzählt, dass viele Schülerinnen wochenlang nicht in die Schule gegangen seien. Zu groß sei das öffentliche Interesse gewesen. Die Kinder hätten keine Ruhe gefunden, erzählen die Leute im Dorf. Einige Kinder seien in psychologischer Betreuung, sagt eine Schülerin.

Auch Menschen aus dem Dorf, die Mia nicht kannten, sagen, sie blieben am Wochenende lieber daheim. „Es geht ja nicht anders“, sagt eine ältere Frau, „wenn hier ständig Trubel in den Straßen ist.“

Die „Frauen aus Kandel“ verfassten ein Manifest gegen Multikulti

Mit Trubel meint sie die Demons­trationen, die anfangs fast wöchentlich durch den Ort zogen. Vor dem Drogeriemarkt, in dem Mia starb, kam es im Frühjahr sogar zu Ausschreitungen, die von der Polizei beendet werden mussten. Das Bündnis „Frauen aus Kandel“ verfasste gar ein „Manifest von Kandel“, zehn Punkte gegen „Multikulti“ und für „Abschiebung“. Zuletzt kam es im Mai zu Protesten.

Das Bündnis „Kandel ist überall“ trifft sich zwar auch außerhalb der Stadt – aber die Unruhe reicht nach wie vor bis in den Kern des Dorfes hinein: Einmal im Monat demonstrieren rechte Gruppen gegen die Flüchtlingspolitik. Meist kommt es dabei auch zu linken Gegendemonstrationen.

Was bleibt, sind die Poster in den Fenstern, die wie stumme Schreie weiterstreiten: „Unsere Stadt hat Nazis satt“ oder „Kandel ist bunt“. Aber auch in Richtung der SPD-Politikerin Malu Dreyer, die aus dieser Gegend stammt: „Malu, deine Politik hat mich getötet.“

Bürgermeister: „Gemeinsinn ist stärker als vorher“

Günther Tielebörger (SPD) musste sich in den vergangenen Wochen vieler Anfeindungen erwehren. „Am Anfang waren die Drohungen so schlimm, dass ich mich manchmal auf dem Heimweg umgedreht habe, um zu sehen, ob mir jemand folgt“, sagt der Bürgermeister des Dorfes. Anonym hatten ihm Nutzer E-Mails geschickt, in denen stand: „Wir haben das Messer gezückt“ oder auch: „Wir wünschen dir einen langsamen Tod.“

Tielebörger ist sich sicher, dass ein Großteil der Demonstranten nicht aus dem Ort stammt. Die meisten in der Stadt sind Mitglied in dem Verein „Wir sind Kandel“, der sich nur wenige Wochen nach dem Unglück gegründet hat. „Durch die Aktionen haben sich erst viele Einwohner in Kandel überhaupt kennengelernt“, sagt er. „Unser Gemeinsinn ist noch stärker als vorher.“

Mias Freundin will Kandel verlassen

Der Verein organisierte vor einer Woche ein Straßenfest – es sollte der Gegenpol werden zu befürchteten ausländerfeindlichen Demonstrationen. Die blieben immerhin aus. Nun hat Bürgermeister Tielebörger die Hoffnung, dass die Menschen im Ort wieder das Weinfest feiern können, für das Kandel eigentlich berühmt sei. Ein wenig Normalität eben.

Stefanie B. aber will Kandel verlassen. Zu viel erinnert sie noch an ihre Freundin Mia. Sie besucht bald eine Berufsschule in einem Nachbarort. „Und doch muss ich dort wieder an Mia denken. Das war die Schule, auf der sie zuletzt war.“ Manchmal geht Stefanie zu Mias Grab, das oben am Altersheim liegt, meist abends, wenn sie allein dort ist. Dann spricht sie mit ihrer Freundin, als wäre sie noch da.