Kandel/Landau. In Landau ist der Prozess im Mordfall Mia eröffnet worden. Ärger gab es um den Dolmetscher. Er kam zu spät und übersetzte lückenhaft.

Stefanie Berger steht mit zwei Freundinnen am Bahnhof Kandel und raucht Kette. Sie trägt einen schwarzen Pulli mit großen goldenen Buchstaben („Von Anfang bis Ende“) und sieht nachdenklich aus. Das passt nicht zu den blonden Haaren mit roten Strähnen und der ausgelassenen Stimmung ihrer Freundinnen.

„Ich rauche seit ich zwölf bin, also seit vier Jahren“, sagt Stefanie, „aber seit Mia tot ist, ist es wirklich zu viel geworden.“ Sie sagt, manchmal seien es bis zu zwei Schachteln am Tag. „Es tut einfach immer noch mega weh.“ Beim Rauchen sei sie ganz bei sich. „Das hilft für den Moment.“

Kandel-Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Viele Menschen bekundeten nach der Tat ihre Trauer, indem sie vor dem Drogeriemarkt in Kandel Blumen und Kerzen ablegten.
Viele Menschen bekundeten nach der Tat ihre Trauer, indem sie vor dem Drogeriemarkt in Kandel Blumen und Kerzen ablegten. © dpa | Andreas Arnold

Mia, eine ihrer besten Freundinnen, starb nicht weit von diesem Bahnhof, sie wurde nur 15 Jahre alt. Ihr Ex-Freund, der afghanische Flüchtling Abdul D., lauerte ihr auf, folgte ihr in einen Supermarkt, kaufte dort ein Brotmesser mit einer 20 Zentimeter langen Klinge und stach dann in einer benachbarten Drogerie siebenmal auf sie ein.

Es war halb vier am Nachmittag, kurz nach Weihnachten, am 27. Dezember. Ein knappes halbes Jahr später wurde am Montag der Prozess gegen Abdul D. eröffnet – unter Ausschluss der Öffentlichkeit, weil der mutmaßliche Täter noch immer als minderjährig gilt.

Mord von Kandel rief heftige Debatte hervor

Es ist einer der spektakulärsten Prozesse in diesem Jahr, denn es geht um eine Konstellation, die inzwischen häufiger in Gerichten verhandelt wurde: Flüchtling ermordet junge Deutsche. Maria in Freiburg, Susanna in Wiesbaden und Mia in Kandel. Dieser Fall hatte wie keiner ein Medienecho und Debatten im Bundestag hervorgerufen.

Wut und Trauer nach dem Mord an Susanna

Die 14-jährige Susanna verschwand am 22. Mai nach einem Treffen mit ihren Freundinnen. Ihre Mutter meldete sie als vermisst. Die Polizei leitete die Fahndung ein. Der entscheidende Hinweis kam laut Ermittlern von einem jungen Geflüchteten, der den mutmaßlichen Täter kannte. Er führte die Polizisten zu diesem Feldweg im Stadtteil Erbenheim in Wiesbaden. Erst am 6. Juni fanden die Beamten die Leiche der vermissten Susanna.
Die 14-jährige Susanna verschwand am 22. Mai nach einem Treffen mit ihren Freundinnen. Ihre Mutter meldete sie als vermisst. Die Polizei leitete die Fahndung ein. Der entscheidende Hinweis kam laut Ermittlern von einem jungen Geflüchteten, der den mutmaßlichen Täter kannte. Er führte die Polizisten zu diesem Feldweg im Stadtteil Erbenheim in Wiesbaden. Erst am 6. Juni fanden die Beamten die Leiche der vermissten Susanna. © dpa | Arne Dedert
Die Polizisten befragten am 6. Juni auch Passanten. Nicht weit entfernt – an den Bahngleisen – fanden sie die Leiche einer weiblichen Person. Da sie vergraben war, konnte man Susanna nicht sofort identifizieren.
Die Polizisten befragten am 6. Juni auch Passanten. Nicht weit entfernt – an den Bahngleisen – fanden sie die Leiche einer weiblichen Person. Da sie vergraben war, konnte man Susanna nicht sofort identifizieren. © dpa | Arne Dedert
Die Leiche von Susanna hatte der Täter in diesem Gebüsch am Bahngleis versteckt. Später stellte sich heraus: Susanna wurde vergewaltigt.
Die Leiche von Susanna hatte der Täter in diesem Gebüsch am Bahngleis versteckt. Später stellte sich heraus: Susanna wurde vergewaltigt. © dpa | Arne Dedert
Erst einen Tag nach dem Fund, am 7. Juni, bestätigte ein Polizeisprecher: Bei der in Wiesbaden gefundenen Leiche handelt es sich um die vermisste 14-jährige Susanna aus Mainz.
Erst einen Tag nach dem Fund, am 7. Juni, bestätigte ein Polizeisprecher: Bei der in Wiesbaden gefundenen Leiche handelt es sich um die vermisste 14-jährige Susanna aus Mainz. © dpa | Arne Dedert
Bei der ersten Pressekonferenz von Polizei und Staatsanwaltschaft zum Todesfall von Susanna war noch einiges unklar. Die Journalisten erfahren: Die 14-jährige wurde umgebracht, ein Tatverdächtiger sitzt in Haft, ein zweiter Mann hat sich offenbar in den Irak abgesetzt.
Bei der ersten Pressekonferenz von Polizei und Staatsanwaltschaft zum Todesfall von Susanna war noch einiges unklar. Die Journalisten erfahren: Die 14-jährige wurde umgebracht, ein Tatverdächtiger sitzt in Haft, ein zweiter Mann hat sich offenbar in den Irak abgesetzt. © dpa | Boris Roessler
Am 8. Juni eine weitere Pressekonferenz in Quedlinburg: Diesmal spricht Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). An diesem Tag verkündet er die Festnahme des zweiten Tatverdächtigen, der mit seiner Familie tatsächlich in den Irak geflüchtet war. Der andere Tatverdächtige wurde hingegen freigelassen.
Am 8. Juni eine weitere Pressekonferenz in Quedlinburg: Diesmal spricht Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). An diesem Tag verkündet er die Festnahme des zweiten Tatverdächtigen, der mit seiner Familie tatsächlich in den Irak geflüchtet war. Der andere Tatverdächtige wurde hingegen freigelassen. © dpa | Hendrik Schmidt
Am gleichen Tag nutzt die AfD-Fraktion den Fall Susanna im Bundestag für ein medienwirksames Statement. Die Mitglieder der Fraktion legen – unangekündigt – eine Schweigeminute ein. Sie werden später dafür kritisiert, den tragischen Fall für politische Zwecke zu instrumentalisieren.
Am gleichen Tag nutzt die AfD-Fraktion den Fall Susanna im Bundestag für ein medienwirksames Statement. Die Mitglieder der Fraktion legen – unangekündigt – eine Schweigeminute ein. Sie werden später dafür kritisiert, den tragischen Fall für politische Zwecke zu instrumentalisieren. © dpa | Ralf Hirschberger
AfD-Demonstranten am 9. Juni in Mainz: Nur wenige dutzend Teilnehmer sind zu einer von der Partei organisierten Mahnwache für die getötete Susanna gekommen.
AfD-Demonstranten am 9. Juni in Mainz: Nur wenige dutzend Teilnehmer sind zu einer von der Partei organisierten Mahnwache für die getötete Susanna gekommen. © dpa | Boris Roessler
Einigen Teilnehmern der von der AfD organisierten Mahnwache wird ebenfalls vorgeworfen, den Fall Susanna für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Etliche Experten betonen, dass es sich bei dem mutmaßlichen Täter, der aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet war, um einen Einzelfall handelt.
Einigen Teilnehmern der von der AfD organisierten Mahnwache wird ebenfalls vorgeworfen, den Fall Susanna für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Etliche Experten betonen, dass es sich bei dem mutmaßlichen Täter, der aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet war, um einen Einzelfall handelt. © dpa | Boris Roessler
Diese Debatten berühren kaum die Trauer der Bekannten und Verwandten von Susanna. Kerzen stehen vor dem Haus der Mutter der getöteten Susanna .
Diese Debatten berühren kaum die Trauer der Bekannten und Verwandten von Susanna. Kerzen stehen vor dem Haus der Mutter der getöteten Susanna . © dpa | Boris Roessler
Hier sehen sich Schulkinder in Mainz Blumen und Kondolenzschreiben an, die von Trauernden und Passanten im Flur des Wohnblocks abgelegt wurden, in dem die Mutter der getöteten Susanna lebt.
Hier sehen sich Schulkinder in Mainz Blumen und Kondolenzschreiben an, die von Trauernden und Passanten im Flur des Wohnblocks abgelegt wurden, in dem die Mutter der getöteten Susanna lebt. © dpa | Boris Roessler
„Wir vermissen dich Susanna“: Viele Menschen haben Botschaften hinterlassen und Briefe der Anteilnahme geschrieben. Oft wurden sie mit Buntstiften geschrieben.
„Wir vermissen dich Susanna“: Viele Menschen haben Botschaften hinterlassen und Briefe der Anteilnahme geschrieben. Oft wurden sie mit Buntstiften geschrieben. © dpa | Boris Roessler
Junge Frauen legen an einer provisorischen Gedenkstätte für die getötete Susanna Blumen nieder und entzünden Kerzen.
Junge Frauen legen an einer provisorischen Gedenkstätte für die getötete Susanna Blumen nieder und entzünden Kerzen. © dpa | Boris Roessler
Am Abend des 9. Juni konnte der Hauptverdächtige von der Bundespolizei in Frankfurt in Haft genommen werden. Die irakische Polizei hatte ihn am Tag davor festnehmen können, danach wurde er mit einer Lufthansa-Maschine von Erbil nach Frankfurt geflogen. Ali B. soll am 10. Juni bei seiner Haftprüfung stundenlang ausgesagt haben.
Am Abend des 9. Juni konnte der Hauptverdächtige von der Bundespolizei in Frankfurt in Haft genommen werden. Die irakische Polizei hatte ihn am Tag davor festnehmen können, danach wurde er mit einer Lufthansa-Maschine von Erbil nach Frankfurt geflogen. Ali B. soll am 10. Juni bei seiner Haftprüfung stundenlang ausgesagt haben. © dpa | Boris Roessler
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Die Flüchtlingskrise hatte ein Todesopfer gefordert, ein junges Mädchen. Es wurde diskutiert, inwiefern die Herkunft und sein heimisches Frauenbild mit der Tat zu tun haben könnten. Hussein K., der Mörder des Mädchens in Freiburg, soll schließlich entschuldigend gesagt haben: „Es ist doch nur eine Frau.“

Pressekonferenz in größeren Saal verlegt

Schon aus diesem Grund hat Robert Schelp, der Sprecher des Landgerichts Landau, die Pressekonferenz in einen größeren Saal verlegt: das Haus am Westbahnhof. Es ist eine Kulturbegegnungsstätte aus Backstein und Holz, hier finden sonst Salsa-Kurse und Suppen-Kochstudio statt.

Am Montag vor der Pressekonferenz steht draußen am Eingang ein Demonstrant, der auf einem Plakat an Mia erinnert. Im Innenraum sind noch einmal die Menschenrechte an die Wand geschrieben. In der langen Reihe der Rechte steht ganz unten: „Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen.“

Gericht sieht Heimtücke als erwiesen an

Ein Konvoi von Polizeifahrzeugen näherte sich am Montag dem Landgericht.
Ein Konvoi von Polizeifahrzeugen näherte sich am Montag dem Landgericht. © dpa | Uwe Anspach

Robert Schelp fasst sich recht kurz. Es seien 13 Verhandlungstage angesetzt, auch am Montag werden einige der insgesamt 80 Zeugen geladen. Mias Eltern werden beide ebenfalls beim Prozess erwartet. Sie sind Nebenkläger im Verfahren gegen Abdul D. Die Anklage laute auf Mord, weil das Gericht Heimtücke und niedere Beweggründe als Motiv erwiesen sah.

Auf die Frage, was der Prozess für ihn bedeute, sagt Robert Schelp nur: „Aus meiner Sicht ist der Prozess nicht herausragend.“ Er habe schon viele Beziehungstaten verhandelt. „Ein Jugendlicher hat seine Freundin getötet, die politische Lage spielt für uns keine Rolle, wir kümmern uns um diese eine Tat.“

Verteidiger will Dolmetscher austauschen lassen

Der erste Prozesstag in Landau begann holprig. Ein komplett leerer Saal, trotzdem fehlte eine entscheidende Person: Der Dolmetscher hatte den Termin verpasst und kam eine Stunde zu spät. Anschließend übersetzte er dann nur lückenhaft. Das erzählt der Verteidiger Maximilian Endler vor dem Gerichtsgebäude. Er habe schließlich das Gericht gebeten, den Mann zu ersetzen.

„Ich habe die Eltern von Mia vorher um Verzeihung gebeten, dass ich schon so früh im Prozess einen solchen Antrag stellen muss“, sagt der Anwalt vor dem Gerichtsgebäude, „aber für einen fairen Prozess ist es wichtig, dass mein Mandant versteht, was im Gerichtssaal gesagt wird.“

Verteidiger: Angeklagter bereut die Tat sehr

Er beschreibt den Angeklagten als ruhig und in sich gekehrt. „Er ist in schlechter Verfassung“, sagt Endler knapp. Abdul D. sei im Gefängnis angegriffen worden und wurde deswegen von anderen Gefangenen isoliert. Gegen ihn gab es mehrere Morddrohungen.

„Er bereut die Tat“, sagt Endler und fügt nach einer Pause an: „Sehr.“ Abdul D. wolle zudem sowohl zu seiner Person als auch zur Sache eine Aussage machen. Ob er auch zu seinem Alter Angaben macht, ließ der Anwalt jedoch offen.

Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht?

Doch dies ist seit Beginn der Ermittlungen in diesem Fall eine der Kernfragen. Ein Gutachten, so Robert Schelp, hatte ergeben, dass der mutmaßliche Täter zur Tatzeit zwischen 17 und 20 Jahre alt gewesen sei, auf jeden Fall aber älter als die 15 Jahre, für die er sich ausgab. Er wurde als unbegleitet geflüchteter Flüchtling aufgenommen und einem Vormund zugeteilt.

„Doch weil auch das Gutachten nicht zweifelsfrei nachweisen konnte, dass er volljährig ist, behandeln wir ihn zunächst nach Jugendstrafrecht.“ Deshalb der Ausschluss der Öffentlichkeit, deshalb das möglicherweise geringere Strafmaß von zehn Jahren für Mord. Sollte er nach Erwachsenenstrafrecht behandelt werden, könnte er lebenslänglich ins Gefängnis gehen.

Freundin über Mia: „Sie war der beste Mensch auf Erden“

Von dem Prozess will Stefanie Berger nichts hören. „Mir reicht es, wenn ich irgendwann das Urteil erfahre“, sagt sie. „Von mir aus gern lebenslänglich, er hat das Leben von so vielen Menschen zerstört.“ Sie zündet sich noch eine Zigarette an und sagt, sie fühle sich nicht mehr wohl in Kandel. „Mich erinnert zu viel an Mia.“

Manchmal geht sie zu ihrem Grab, oben am Altersheim, meist abends, wenn sie denkt, dass sie allein dort ist. Dann spricht sie mit ihrer Freundin, als wäre sie noch da. „Sie war der beste Mensch auf Erden.“ Im Herbst wechselt Stefanie Berger an die Berufsschule in Landau, für sie beginnt ein neuer Lebensabschnitt. „Und doch muss ich wieder an Mia denken. Das war die Schule, auf der Mia zuletzt war.“