Berlin. Der Fall des erstochenen Mädchens von Kandel wirft viele Fragen über den Umgang mit unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen auf.

Volker Poß, der Bürgermeister von Kandel, tritt zwei Tage nach der Tat vor die Presse. Er sagt: „Ich denke, was im Moment zählt, ist wirklich die Anteilnahme, ist wirklich das tiefe Mitgefühl.“ Poß fordert Mitgefühl mit der Familie einer 15-Jährigen in der südpfälzischen Stadt.

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Unter dringendem Tatverdacht: ein Flüchtling aus Afghanistan, der als sein Alter auch 15 Jahre angibt. Offenbar eine Beziehungstat, denn er war ihr Ex-Freund.

Der Vater des Mädchens sagte: „Er hat sie gestalkt und war eifersüchtig.“ Zudem äußerte der Mann

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ausgebrochen. Manche warnen davor, Asylbewerber unter Generalverdacht zu stellen. Andere fordern ihnen gegenüber mehr Härte und noch schärfere Kontrollen. Mitte Dezember lebten in Deutschland rund 55.000 unbegleitete Minderjährige in der Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe. Wie ist die Lage dieser Menschen in Deutschland?

Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben in Deutschland?

Unter den gut 55.000 geflüchteten Jugendlichen ohne Familie in Deutschland sind laut Bundesverwaltungsamt rund 31.000 Minderjährige sowie etwa 24.000 junge Volljährige, die auch nach ihrem 18. Geburtstag noch unter das Jugendhilferecht fallen. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge 2017 deutlich gesunken. Auf dem Höchststand im März 2016 wurden noch rund 68.000 Jugendliche nach dem Jugendhilfegesetz betreut und untergebracht.

Vor dem Drogeriemarkt in Kandel wurden Blumen, Kerzen und diese Steinfigur abgelegt. Hier soll ein junger Afghane seine Ex-Freundin niedergestochen haben.
Vor dem Drogeriemarkt in Kandel wurden Blumen, Kerzen und diese Steinfigur abgelegt. Hier soll ein junger Afghane seine Ex-Freundin niedergestochen haben. © dpa | Andreas Arnold

Seit dem zweiten Quartal 2016 fällt ihre Zahl. Ein großer Teil dieser Gruppe stellt keinen Antrag auf Asyl: Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) entfielen in den ersten elf Monaten des Jahres 2017 nur 8581 Asylanträge auf alleinreisende minderjährige Flüchtlinge. Denn bis sie volljährig sind, sind unbegleitete Flüchtlinge häufig geduldet.

Abschieben dürfen die Behörden sie nur, wenn sichergestellt ist, dass sich jemand im Heimatland um die Jugendlichen kümmert. Jugendliche Geflüchtete haben deutlich bessere Aussichten auf Schutz als erwachsene Asylbewerber: 2016 erhielten nach Angaben des BAMF 89 Prozent aller minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge eine Form von Schutz. Für die Zeit zwischen Januar und August 2017 lag diese Quote bei 80 Prozent.

Wie werden minderjährige Geflüchtete versorgt?

Wenn Kinder und Jugendliche unter 18 ohne Begleitung von Eltern oder anderen Erwachsenen auf der Flucht nach Deutschland kommen, ist das Jugendamt verpflichtet, sie vorläufig in Obhut zu nehmen.

Bei einem sogenannten Erstscreening wird der Gesundheitszustand geprüft und geklärt, ob es Verwandte in Deutschland gibt, bei denen der oder die Minderjährige unterkommen kann. Anschließend wird festgelegt, welches Land und welches Jugendamt zuständig sind für Unterkunft, Versorgung und Hilfe für das Kind. Unbegleiteten Minderjährigen wird ein Vormund oder ein Pfleger zur Seite gestellt.

Laut Diakonie wohnt der Großteil bis zur Volljährigkeit in einer betreuten Wohngruppe. Laut dem deutschen Sozialgesetzbuch, EU-Richtlinien und internationalen Konventionen gelten Kinder und Jugendliche als besonders schutzbedürftig. Betreuer berichten gerade bei jungen Menschen etwa aus Syrien oder Afghanistan von Traumatisierungen durch Krieg und Flucht.

Wie wird das Alter ermittelt?

Es ist Aufgabe des Jugendamtes, das Alter von Flüchtlingen zu bestimmen. Als Nachweis gelten zunächst einmal Ausweise oder Urkunden eines Geflüchteten. Oftmals haben die jungen Menschen jedoch keine Papiere. Dann führen Mitarbeiter der Behörden laut BAMF „intensive Gespräche“, in denen sie die Psyche, das Verhalten und die soziale Entwicklung in Augenschein nehmen.

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU).
Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU). © dpa | Sven Hoppe

Bestehen weiterhin Zweifel über das Alter, kann das Jugendamt eine medizinische Untersuchung beantragen. Dies schließt etwa die umstrittenen Genitaluntersuchungen und das Vermessen von Knochen ein. Experten wie der Kriminalermittler André Schulz merken an, dass auch eine Analyse des Arztes nie absolute Sicherheit gebe.

Mehrfach wurden Fälle bekannt, bei denen Flüchtlinge falsche Angaben über ihr Alter gemacht hatten. Bayerns CSU-Innenminister Joachim Herrmann sagte unserer Redaktion: „Wir brauchen eine strikte Regelung für eine medizinische Altersüberprüfung von allen ankommenden Flüchtlingen, die nicht klar als Kinder zu erkennen sind.“ Dafür werde sich die CSU in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD einsetzen. „Noch immer täuschen zu viele Flüchtlinge ein jugendliches Alter vor. Damit bekommen sie eine besondere Behandlung, die ihnen nicht zusteht.“

Sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auffällig häufig straffällig?

Eine Statistik über Straftaten von minderjährigen Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, führt das Bundeskriminalamt (BKA) nicht. Es wertet nur allgemein die Straftaten von Zuwanderern aus. In dieser BKA-Statistik ist der Anteil von Tatverdächtigen aus Syrien, Afghanistan und Irak deutlich niedriger als etwa der von Tatverdächtigen aus den Maghrebstaaten oder Georgien. Die Delikte sind häufig Diebstahl oder Drogenhandel, teilweise auch Körperverletzung.

André Schulz, Vorsitzender Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK).
André Schulz, Vorsitzender Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK). © imago/Metodi Popow | imago stock&people

„In Deutschland fallen minderjährige Flüchtlinge immer wieder auf“, sagt der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), André Schulz. Dafür gebe es verschiedene Gründe: So seien heranwachsende Männer „ohnehin überpräsent“ in Kriminalitätsstatistiken. „Wer jung ist, sucht seine Rolle in der Gesellschaft. Da spielt die Erziehung eine große Rolle, aber auch die Freunde und Bekannten, die Peergroups“, sagt Schulz. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die keine Familie um sich hätten und wenige oder gar keine Freunde oder Bezugspersonen, würden nur sehr schwierig den notwendigen Halt finden.

Laut Kriminalisten werden aus Delikten wie Stalking und Bedrohungen häufig Gewalttaten. Fast jedes fünfte Verbrechen wie Mord, Totschlag oder Vergewaltigung passiert in Partnerschaften. Immer wieder gibt es Meldungen etwa über getötete Ehepartner. „Verschmähte Liebe ist das häufigste Tatmotiv bei Tötungsdelikten“, sagt Schulz. Ohnehin gelte, dass der Täter in der Mehrheit eine Person aus dem Umfeld sei. „Egal, ob Deutscher, Türke oder Afghane.“ Auffällig allerdings: Minderjährige werden äußerst selten Opfer einer Straftat wie Totschlag – und sind noch seltener Täter.

Was passiert, wenn minderjährige Flüchtlinge volljährig werden?

Wenn jugendliche Geflüchtete volljährig werden – was häufig am 1. Januar eines Jahres passiert, weil dieses Datum oft festgelegt wird, wenn der echte Geburtstag nicht bekannt ist –, droht das abrupte Ende der Unterstützung durch den Staat. Nach dem Gesetz ist aber auch nach dem 18. Geburtstag weiter Unterstützung möglich.

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    Meistens wird die sogenannte Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung weitere drei Jahre gewährt, in Einzelfällen auch darüber hinaus. Nach Angaben des Bundesverwaltungsamts werden derzeit 24.000 Jugendliche auch nach ihrem 18. Geburtstag unterstützt. „Damit die Inte­gration dieser jungen Menschen gelingt, braucht es bedarfsgerechte Angebote der Kinder- und Jugendhilfe“, sagt ein Sprecher des Ministeriums, „auch und gerade für junge Volljährige.“