Deutschland beendet ESC-Trauma – Israel holt den Sieg
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Von Bastian Angenendt
Lissabon. Ein Flitzer und verrückte Outfits: Der 63. Eurovision Song Contest bot vielfältige Auftritte. Netta gewinnt für Israel den Wettbewerb.
Es war schon 1.30 Uhr in Portugal, als Michael Schulte eingehüllt in Deutschlandfahne und mit leuchtenden Augen vor den Mikrofonen auftauchte. Nach einer pompösen Drei-Stunden-Show, nach einem nervenaufreibenden Voting, immer noch voller Energie.
„Besser könnte es mir eigentlich nicht gehen“, sagte der Deutsche über seinen vierten Platz beim ESC-Finale in Lissabon, den er zuvor mit einem emotionalen und nahezu perfekten Auftritt geholt hatte. „Da oben zu stehen, war wirklich einer der verrücktesten und schönsten Momente in meinem Leben.“
Schultes „You Let Me Walk Alone“, in dem er von seinem verstorbenen Vater singt, schnitt am Samstagabend nach der Abstimmung von Zuschauern und Experten-Jurys aus ganz Europa und Australien nur schlechter ab als die Siegerin Netta aus Israel, Eleni Foureira aus Zypern und Cesár Sampson aus Österreich.
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Als das Ergebnis gegen kurz nach 23 Uhr Ortszeit feststand, als die Siegerin mit standesgemäßen 50 Kilogramm Konfetti vollgeregnet wurde, hatte Michael Schulte seine Freude laut rausgeschrien.
Michael Schulte zeigt Mitgefühl mit SuRie
Ein emotionales Ende einer großen Party, die allerdings einmal kurz gestört wurde, als ein Mann beim Auftritt der Britin SuRie auf die Bühne stürmte und der Sängerin das Mikro entriss. Der Störer wurde festgenommen, SuRie setzte ihre Show fort und verzichtete trotz allem auf einen zweiten Auftritt. „So etwas wünsche ich keinem Künstler“, sagte Michael Schulte. „Ich hoffe, das UK gibt ihr nächstes Jahr eine zweite Chance.“
Deutlich glatter lief der Auftritt des Deutschen, der in den Tagen zuvor in Lissabon viele Sympathien gesammelt hatte und nicht zuletzt deswegen in den Prognosen der Wettanbieter immer weiter nach oben gesprungen war: kaum Blingbling auf der Bühne, alle Augen auf den Künstler, eine reduzierte, aber fesselnde Kulisse – und die Töne saßen.
Die etwas schnellere und variantenreicher gesungene Bühnenfassung seines Songs brachte an entscheidenden Stellen mehr Power in die Ballade, die im Februar beim deutschen Vorentscheid die Höchstpunktzahl geholt hatte. Schon bei den Proben in Lissabon hatte er Zuhörer damit zum Weinen gebracht, am Samstag blieb das nicht anders. Zum Teil sogar unter den internationalen Journalisten.
„Die Stimme von Ed Sheeran, die Frisur von Pumuckl“
„Ich bin jetzt einfach nur erleichtert und stolz“, sagte Michael Schulte, der nicht nur sich selbst, sondern auch den deutschen ESC-Fans ein lang ersehntes Geschenk machte. Zwei letzte Plätze und ein vorletzter Platz in den letzten drei Jahren hatten viel Spott und Häme über Künstler und das ESC-Konzept der ARD gebracht.
Diese ESC-Momente bleiben in Erinnerung
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Kaum zufällig fuhr mit dem 28-Jährigen eine Art Gegenentwurf von dem nach Portugal, was Deutschland zuletzt auf die ESC-Bühnen geschickt hatte. Dieses Mal gab es kein schrilles Manga-Girl, kein austauschbares Pop-Mädchen im Glitzerkleid – sondern einfach nur: „Micha“. „Authentisch und ehrlich“, so hatte sich der Lockenkopf aus Buxtehude zuvor beschrieben.
ARD-Moderatorin Barabara Schöneberger fasste am Samstagabend im Fernsehen, wo das ESC-Finale auf mäßiges Interesse stieß, zusammen: „Die Stimme von Ed Sheeran, die Frisur von Pumuckl.“ Wie auch immer: Es war eine Mischung, die für eine große Überraschung sorgte.
Netta hatte Favoritenrolle an Foureira abgebeben
Überraschend war der Ausgang des Abends letztendlich auch für die Gewinnerin. Noch kurz vor ihrer Sieger-Zugabe schaute Netta immer wieder ungläubig durch die mit 11.500 Zuschauern gefüllte Altice Arena. Denn nach einem wochenlangen Hype um die 25-Jährige war die Rolle der Favoritin kurz vor dem Finale neu vergeben worden. „Das ist einfach nur komplett verrückt“, jubelte die Sängerin mit Tränen in den Augen.
Eleni Foureira hatte sich mit ihrem Auftritt im zweiten Halbfinale mit ihrem Dancepop-Song „Fuego“ an die Spitze der Prognosen gegroovet. Die einen feierten sie wahlweise als zweite Beyoncé oder neue Shakira, die anderen verstanden die Welt nicht mehr.
Zuvor hatte Netta wochenlang ganz oben auf den Listen der Experten und Buchmacher gestanden. Weil ihr Song „Toy“ so gut zur „#metoo“-Debatte passt. Und wegen ihres abwechslungsreichen, schrillen Stils. „Der Sieg bedeutet, dass wir die Unterschiede zwischen uns akzeptieren und Diversität zelebrieren“, sagte die grell in pink-rot geschminkte Netta über ihren Erfolg.
Letzter ESC-Sieg Israels vor 20 Jahren
Bunt gekleidete Tänzerinnen und knallige Lichteffekte hatten den Siegersong auf der Bühne noch gepusht – lauter als nach ihrem Auftritt wurde es in Lissabon nicht an diesem Abend. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gratulierte noch in der Nacht und bezeichnete die Künstlerin als „Israels beste Botschafterin“. Der letzte von insgesamt vier israelischen ESC-Siegen liegt 20 Jahre zurück.
Schon in den Tagen zuvor hatte es in der portugiesischen Küstenstadt kaum ein Vorbeikommen an ihrem Song gegeben. Im Supermarkt, in der Shopping-Mall, aus tragbaren Lautsprechern der Fans im „Eurovision Village“ in der Innenstadt – überall konnte man Netta rappen, stottern, singen hören. Ihre Lied gewordene Anklage („I’m not your toy, you stupid boy“) hatte, so schien es, auch außerhalb Israels eine große, bunte Fangemeinde gewonnen.
Medien-Marathon geht weiter für Michael Schulte
Etwas weniger euphorisch kamen die deutschen Fans daher. Tim (26), der wegen des ESC bereits am Mittwoch nach Portugal gekommen war, wäre zwei Tage vor dem Finale zum Beispiel schon froh gewesen, wenn es Michael Schulte nicht komplett versaut – mit vorsichtigem Optimismus.
„Egal, wie schlecht es vorher auch gelaufen ist“, sagte der 26-Jährige aus Hamburg, „man hofft dann ja doch immer aufs Neue. Das ist wie beim HSV.“ Zumindest eine seiner Hoffnungen wurde dank Michael Schulte am Samstag nicht enttäuscht.
So schnell wird Michael Schulte all das allerdings kaum in Ruhe genießen können. In den nächsten Tagen geht es für ihn noch ein wenig weiter mit dem Medien-Marathon, den er in Lissabon hinter sich gebracht hat.
Und dann wartet auch schon wieder die nächste große Aufgabe und der nächste große Erfolgsdruck: Bis August muss das Kinderzimmer für seinen Sohn fertig werden. Klingt nach einem erfolgreichen Jahr. Über die ersten Monate sagt der Bald-Papa am Samstagabend: „Besser hätte es eigentlich gar nicht laufen können.“