Berlin. Karl Marx wurde vor 200 Jahren geboren. Seine Theorie ist in vielen Teilen brandaktuell. Die digitale Wirtschaft könnte er er klären.

Die Magie der runden Zahl macht auch vor dem rational-materialistischen Denker Karl Marx nicht halt. Seine Werke verkaufen sich in den Tagen vor seinem 200. Geburtstag in Rekordauflagen. Ob sie danach auch gelesen – und verstanden – werden, steht seit ihrer Erstveröffentlichung auf einem ganz anderen Blatt. Und wenn ja, was hat er in unseren heutigen Zeit noch zu sagen?

Klar ist, im Bundestag würde wohl kaum ein Redner mit einem flotten Marx-Zitat auf den Lippen versuchen, seine Argumentationskette zu schmücken. Zu kläglich sind die Versuche gescheitert, Marxens Ideen von der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft näher zu kommen. Über das Stadium des „real existierenden Sozialismus“ – in Wahrheit eine ökonomische und gesellschaftliche Sackgasse – sind die allmächtigen Parteien zwischen Pjöngjang, Osteuropa und Kuba nie hinausgekommen.

Begleitet war das Gesellschaftsexperiment vor allem in Maos China und Stalins Sowjetunion von Massenmorden und Misswirtschaft, mindestens aber von Gängelei, Freiheitsberaubung und leeren Regalen. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, sprich, die Enteignung der Unternehmer, schuf nicht Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand, sondern das Gegenteil.

Lag der Rauschebart aus Trier also mit allem falsch? Sicherlich nicht. Zumal er dem kapitalistischen System durchaus große Sympathie entgegenbrachte. Im zusammen mit seinem bourgeoisen Mitstreiter und Gönner Friedrich Engels verfassten „Manifest der kommunistischen Partei“ schreibt er 1848, dieses Wirtschaftssystem habe „massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen, als alle vergangenen Generationen zusammen.

Karl-Marx-Statue in Trier enthüllt

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    Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Welttheile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welch früheres Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schooß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten?“

    Nur, dass der so entstehende Reichtum extrem ungleich verteilt wurde. Ganz im Geiste seiner Zeit ging er an die Analyse der Verhältnisse, um sie in ein wissenschaftliches System zu kleiden, entwickelte seine Gesetzmäßigkeiten von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze, der Entwicklung vom Niederen zum Höheren dank dialektischer Aufhebung, vom tendenziellen Fall der Profitrate und so weiter.

    Marx konnte nicht wissen, wie der Kapitalismus sich entwickelt

    Aber er hatte eben auch mit den Beschränkungen seiner Zeit zu kämpfen. So konnte er nicht ahnen, wie wandlungsfähig das kapitalistische System sein würde – und dass es sich nicht darin erschöpft, dass Kapitalisten Proletarier ausbeuten, bis deren Elend so groß ist, dass es unweigerlich zum gewaltsamen Umsturz der bestehenden Verhältnisse kommen muss.

    Werden Arbeitskräfte rar und steigt die Produktivität, ist der Kapitalist durchaus willens, höhere Löhne zu zahlen. Kapitalismus hat neben all seinen Tücken und Gebrechen auch zu einem nie gekannten Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten geführt. Und längst nicht allen Proletariern stand der Sinn immer nach Revolution.

    Die kommunistische Theorie war ganz im Gegenteil kein Produkt der Arbeiterbewegung, sondern das von bürgerlichen Intellektuellen, die als revolutionäre Avantgarde den Werktätigen beibringen wollten, was denn ihre wirklichen Ziele und Bedürfnisse seien. Und unter ihnen war Marx einer der rechthaberischsten.

    Parteipolitik war Karl Marx fremd

    Wer seine Meinung nicht ganz und gar teilte, konnte sich ausgiebiger Beschimpfung sicher sein. Genauso wenig behagte Marx die praktisch-politische Arbeit. Seine Ausflüge in Parteiversammlungen und die Sozialistische Internationale blieben Episode. Aber seine Schriften hatten doch einen mobilisierenden Einfluss auf die Arbeiterbewegung, vor allem auf ihre Führer.

    Das zwang Staat und Gesellschaft zur Reaktion. Bis hin zu Papst Leo XII., der 1891 mit seiner Enzyklika „Rerum Novarum“ die katholische Soziallehre aus der Taufe hob und sich den Beinamen „Arbeiterpapst“ verdiente. Darin heißt es zwar: „Die Lehre des Sozialismus widerspricht der naturrechtlich-christlichen Eigentumslehre, bringt Verwirrung in den Aufgabenbereich des Staates und stört die Ruhe des Gemeinwesens.“ Aber ohne Marx gäbe es eben auch keine Herz-Jesu-Marxisten.

    In Deutschland lautete die Antwort seit Otto von Bismarcks Zeiten Sozialstaat. Das war die andere Seite der Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik des Reichskanzlers. Hier Sozialistengesetz und Parteiverbot, dort soziale Absicherung dank Renten-, Unfall- und Krankenversicherung. Neben der Erkenntnis, dass extreme soziale Gegensätze große gesellschaftliche Sprengkraft für das noch junge Kaiserreich bereithielten, kann getrost unterstellt werden, dass der Kanzler auch der marxistisch beeinflussten Arbeiterbewegung politischen Boden entziehen wollte.

    Heute würde Marx die digitale Ökonomie kritisieren

    Wenn also heute im Bundestag über Rentenerhöhungen oder Beitragssenkungen debattiert wird, schwingt zumindest indirekt immer auch ein bisschen Marx mit. Die Ordnungspolitik Ludwig Erhards (Wohlstand für alle) rundete nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und angesichts des sowjetischen Blocks die Bemühungen um Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit ab.

    Bei allen Schwächen, die Marxens Theorie nachgewiesen wurden, bleibt ein Ansatz unbestritten: Er hat bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts global gedacht, die weltumspannende Wirkung des Kapitalismus erkannt und beschrieben – und sich auch seine Überwindung so gedacht. Der berühmte Schlusssatz des kommunistischen Manifestes, „Proletarier aller Länder vereinigt euch“, ist Ausdruck dessen.

    An seinem 200. Geburtstag würde er bestimmt mit Feuereifer an die Analyse des digitalen Kapitalismus gehen. Denn was sich zu Marxens Zeitalter der industriellen Revolution dank Dampfmaschinen ereignete, hat durchaus Parallelen in der heutigen Welt. Mit den Produktionsmitteln Computer und Netzwerk entsteht eine neue, weltumspannende Ökonomie mit innovativen Geschäftsideen, sie drängt alte Gewerke ins Abseits, schafft ein neues Proletariat, das in prekäre Arbeitsverhältnisse gedrängt wird – ermöglicht ungeahnte Profite, die ganz wie zu Marxens Zeiten immer ungleicher verteilt werden.

    Neuen Philosophen gab Marx Aufgaben mit

    Denn auch der digitale Kapitalismus giert nach Profitmaximierung und neigt zur Monopolbildung. Letztere beklagte auch Marx schon als Hemmnis für den freien Wettbewerb, die Triebfeder dieses so produktiven Wirtschaftssystems.

    Es liegt nun an einer anderen Generation von Philosophen, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern zu verändern. Und an Politikern, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, für gesellschaftlichen Ausgleich zu sorgen, der die Wirtschaftskraft nicht unnötig bremst und den Menschen mindestens würdige Lebensumstände und nach Möglichkeit Sicherheit und Wohlstand bietet.

    Dieser Prozess wird nie abgeschlossen sein, und er ist nicht konfliktfrei zu bewältigen. Dass er sich aber nicht im Klassenkampf zwischen Kapitalist und Arbeiter erschöpft, an dessen Ende die Enteignung des einen und die Diktatur des anderen stehen kann, hat die Geschichte gezeigt. Und das für eine Gesellschaft, in der jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen leben kann, erst mit Gewalt ein neuer Mensch erschaffen werden müsste, auch. Das endet unweigerlich in der Katastrophe.

    Diesen Erkenntnissen hätte sich sicherlich auch Karl Marx nicht verweigert. Und ein Satz wie Lenins „Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“ wäre dem Mann aus Trier, der von sich sagte, ganz gewiss kein Marxist zu sein, selbst wohl nie über die Lippen gekommen. Nach dem Murks, der in Marxens Namen von seinen Epigonen gesellschaftspolitisch fabriziert wurde, kann ein Blick auf das Original auch heute noch bereichern.