Berlin. Der Skandal um Missbrauch bei Hilfsorganisationen wie Oxfam weitet sich aus. Auch bei Ärzte ohne Grenzen wurden Zwischenfälle bekannt.

Erst waren es die sogenannten Sexpartys mit Prostituierten in Haiti nach dem Erdbeben 2010. Dann Fälle von Vergewaltigung und versuchter Vergewaltigung im Südsudan und ein Mitarbeiter, der Sex für Hilfsgüter forderte: Seit einer Woche jagt eine Enthüllung über Vorgänge innerhalb der Hilfsorganisation Oxfam die nächste.

Am Donnerstag räumte dann auch die Organisation Ärzte ohne Grenzen ein, dass im vergangenen Jahr 19 ihrer Mitarbeiter im Zusammenhang mit Hinweisen auf sexuellen Missbrauch entlassen worden seien.

Die US-Flüchtlingshelfer von International Rescue Committee (IRC) teilten ebenfalls mit, es habe bei ihnen Fälle von Missbrauch im Kongo gegeben. Ausgerechnet Mitarbeiter von Organisationen, die nur dafür da sind, anderen zu helfen. Erste Geldgeber zogen ihre Unterstützung ebenso zurück wie prominente Werbeträger – die britische Schauspielerin Minnie Driver sagte sich von Oxfam los.

Sieben Mitarbeiter verließen die Organisation 2011 nach Untersuchungen

Die Vorwürfe gelten auch der offensichtlichen Vertuschungstaktik von damals: Zwar wurden 2011 Untersuchungen eingeleitet, sieben Mitarbeiter verließen die Organisation – aber sie wurden nicht alle entlassen. Der damalige Landeschef, ein Belgier, bekam Gelegenheit, sich „ehrenhaft“ zurückzuziehen.

In der offiziellen Mitteilung war die Rede von „schwerwiegendem Fehlverhalten“, aber weder von „Sexpartys“ noch von Prostitution – die übrigens nicht nur dem Verhaltenskodex von Oxfam widerspricht, sondern auch in Haiti illegal ist. Besagter Landeschef hatte offenbar schon 2006 im Tschad ähnlich gehandelt und nach Haiti einen ähnlichen Job gefunden.

Die britische Schauspielerin Minnie Driver beendete ihre Unterstützung für Oxfam.
Die britische Schauspielerin Minnie Driver beendete ihre Unterstützung für Oxfam. © dpa | Billy Bennight

Die Soziologin Paula-Irene Villa ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht überrascht. Sie erkennt in den Vorfällen Muster eines bekannten Problems: „Die Organisationen sind in kriegerischen, kriegsähnlichen oder Katastrophensituationen aktiv.

Also in sozialen Konstellationen, die vielfach sowieso schon von Ent-Zivilisierung oder Herabsenkung der Hemmschwelle gegenüber Gewalt gekennzeichnet sind.“ Vertreter von Hilfsorganisationen seien zudem sehr handlungsmächtige, ressourcenstarke Personen. Sie träfen auf die viel ärmere, mit viel weniger Macht ausgestattete Bevölkerung.

Andere Hilfsorganisationen sind nach den Enthüllungen alarmiert

So entstehe eine starke Machtasymmetrie. „Es ist aus der Forschung bekannt, dass diese Asymmetrien vielfach durch sexualisierte Gewalt noch zementiert werden“, sagt die Professorin der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Sie betont aber auch: „Die allergrößte Zahl der Männer in solchen Situationen handelt korrekt. Aber wenn Missbrauch und Übergriffe passieren, ist es ein strukturelles Problem, kein zufälliges.“

Eine Orientierung an dem ehrgeizigen Ziel, dass solche Übergriffe nie mehr vorkommen, sei wichtig und richtig. „Wir sehen ja in der Geschichte, dass Gewalt durch veränderte Bedingungen auch zurückgehen kann.“

Verheerende Signalwirkung

Die Enthüllungen alarmieren auch andere Hilfsorganisationen. „Es ist dramatisch, wenn die Vergehen weniger Täter die großartige und so dringend benötigte Arbeit von Hunderttausenden Mitarbeitenden in der Entwicklungszusammenarbeit in Misskredit bringen“, sagt Kerstin Straub, Kommunikationsleiterin bei Plan International Deutschland.

Dort gebe es eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Missbrauch und Ausbeutung. Vergehen müssten lokal zur Anzeige gebracht, die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. „Natürlich muss verhindert werden, dass solche Leute weiterhin in dem Sektor arbeiten“, so Straub.

Oxfam kündigt eine unabhängige Untersuchungskommission an

Oxfam blieb jetzt nur die Flucht nach vorn. Zwar hatte der britische Ableger, der für Haiti zuständig war, 2011 ein Büro zum Schutz vor Missbrauch eingerichtet, zudem eine Whistleblower-Hotline.

Sie hätten auch Trainingsteams in den Südsudan geschickt, um Mitarbeiter zu sensibilisieren. Das reichte nun nicht mehr. Oxfam kündigte am Freitag die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission und die Erhöhung des Etats für die Schutzmaßnahmen an.

Auch der deutsche Oxfam-Ableger ist von Spendeneinbußen betroffen. „Wir werden alles dafür tun, das Vertrauen zurückzugewinnen“, sagt Pressesprecher Steffen Küßner. „Wir haben eine Aufgabe, die möchten wir erfüllen. Und die Einnahmen dafür fehlen uns jetzt durch die furchtbaren Vorfälle.“