Das passiert, wenn junge Muslime Auschwitz besuchen
•
Lesezeit: 7 Minuten
Von Benjamin Köhler
Duisburg. Burak Yilmaz fährt jährlich mit jungen Muslimen nach Auschwitz. Das Projekt hat Erfolg. Von einem Pflichtbesuch hält er aber wenig.
Erst kürzlich war Sawsan Chebli mit ihrem Vorschlag groß in der „New York Times“. Die Berliner SPD-Politikerin und Staatssekretärin hatte einen Pflichtbesuch in einem ehemaligen NS-Konzentrationslager für alle, die in Deutschland leben, ins Gespräch gebracht – und damit für ziemlich viel Wirbel gesorgt. Denn Chebli sagte explizit, dass der Besuch in Auschwitz oder Bergen-Belsen Bestandteil von Integrationskursen für Asylbewerber werden solle.
„Antisemitismus bekämpft man nicht mit einem Crash-Kurs“
Trotzdem hält der Duisburger Pädagoge Burak Yilmaz von Cheblis Idee wenig. „Antisemitismus bekämpft man nicht mit einem Crash-Kurs“, sagt er. „Es ist diese einfache Sichtweise: Menschen gehen in eine Gedenkstätte und kommen als begeisterte Demokraten wieder heraus – das stimmt so nicht.“
Yilmaz weiß, dass der Kampf gegen Antisemitismus viel intensiver, viel langwieriger ist. Und er weiß, wovon er spricht. Seit 2012 fährt er jedes Jahr mehrere Tage mit einer Gruppe junger muslimischer Männer ins ehemalige Konzentrationslager Auschwitz im heutigen Polen.
Yilmaz arbeitet im Duisburger Problembezirk Obermarxloh. Der Anteil von Einwohnern mit Migrationshintergrund liegt hier bei mehr als 35 Prozent. Antisemitismus, der Hass gegen Juden – das ist hier Alltag. Das Wort Jude habe sich als gängiges Schimpfwort unter den Jugendlichen etabliert, sagt Yilmaz. Es sei ein Automatismus geworden, für alles Negative das Wort Jude zu benutzen. „In Schulklassen, draußen im Bus, in Sportvereinen“, sagt er.
Die eigene Identität finden
Um dem entgegenzusteuern, hat er mit dem Verein Junge e.V. und dem Duisburger Zentrum für Erinnerungskultur das Projekt „Junge Muslime in Auschwitz“ ins Leben gerufen. Dabei geht es aber nicht allein darum, antisemitische Vorurteile abzubauen.
Das Projekt, das vom Landschaftsverband Rheinland gefördert wird, soll den Jugendlichen die Chance geben, ihre eigene Identität zu finden und zu sehen, wie vielschichtig diese sein kann. „Die Jugendlichen werden als Araber, Türken oder Muslime gelesen – aber werden in Deutschland nie als Deutsche angesprochen“, weiß Yilmaz.
„Warum soll ich mich für die deutsche Geschichte interessieren?“
Das merken sie auch im Schulunterricht, der viel zu eindimensional sei. Viele Jugendlichen fragten sich, warum in den Schulbüchern so wenig über ihre Migrationsgeschichte stehe, sagt Yilmaz. „Warum soll ich mich eigentlich für die deutsche Geschichte interessieren, wenn die Lehrer mir jeden Tag das Gefühl geben, dass ich gar kein richtiger Deutscher bin – obwohl ich einen deutschen Pass habe?“, fragte ihn ein Schüler einmal.
Er ist offenbar kein Einzelfall. „Die meisten muslimischen Jugendlichen kennen höchstens Eckdaten zum Nationalsozialismus“, sagt Yilmaz. Als Deutsche fühlen sie keine Verantwortung für die Geschichte, für den Massenmord an Millionen von Juden, für die Gräueltaten der Nazis. Weil sie sich selbst nicht als Deutsche sehen – dabei sind viele von ihnen hier geboren und aufgewachsen.
Ein KZ-Besuch allein reicht nicht
Auch Staatssekretärin Chebli, selbst Tochter palästinischer Einwanderer, hat erkannt, dass sich die dritte Generation von Einwanderern heute immer seltener als Deutsche fühlen: „Sie tut sich deutlich schwerer mit der Identifikation mit Deutschland als meine Generation. Das hat nicht nur, aber auch etwas mit Diskriminierungs- und Ablehnungserfahrungen zu tun.“
Dass sich das allein nach einem kurzen Besuch in einer KZ-Gedenkstätte ändert, glaubt Yilmaz nicht. Drei Monate vor der Fahrt beginnt eine intensive Vorbereitungszeit. Zuerst sollen die Teilnehmer ihre Gefühle herauslassen, und dabei auch über ihren eigenen Rassismus-Erfahrungen sprechen.
Denn häufig werde bei antisemitischen Beleidigungen geschwiegen, sagt Yilmaz. „Doch genau dieses Schweigen wird meist als Bestätigung wahrgenommen.“ Mit Rollenspielen sollen die Jugendlichen lernen, wie sie mit einer solchen Situation umgehen können.
Neue Perspektive auf die Geschichte
Anschließend rekonstruieren sie anhand von Fotos und Dokumenten ihre eigene Familiengeschichte. Sie setzen sie sich mit lokaler Geschichte auseinander und lernen, dass Duisburg-Obermarxloh – heute ein als No-Go-Area abgestempelter Problembezirk – während der NS-Zeit eine Hochburg des Widerstandes gegen die Nazis war.
„Das ist eine Perspektive, die die Jugendlichen in der Schule nicht lernen“, sagt Yilmaz. „Nationalsozialismus ist dadurch kein abstrakter Begriff mehr, sie kriegen eine ganz neue Sichtweise auf ihren Stadtteil.“
Porträts von Holocaust-Überlebenden
1/17
Nachdem die Gruppe antisemitische Hetze in Facebook-Videos analysiert hat, steht die Fahrt nach Auschwitz an. Mehrere Tage sind sie in Polen, besichtigen dort zunächst drei Tage das ehemalige Vernichtungslager, bevor ein kulturelles Programm in Krakau folgt. Nach der Fahrt beginnt ein sechs Monate langes Theaterprojekt, um das Erlebte zu verarbeiten.
Besuch gewährt neue Sicht auf eigene Identität
Einige der Jugendlichen seien entsetzt, manche weinten, wenn sie die Fotos von den Leichenbergen, von den abgemagerten Kindern im Vernichtungslager sehen, sagt Yilmaz. „Andere sehen das eher rational, fragen sich, wie Menschen so etwas tun könnten, warum das nicht verhindert wurde.“
Doch es sind nicht nur diese Eindrücke, die die Jugendlichen bewegen. „In Auschwitz werden sie das erste Mal in ihrem Leben als Deutsche wahrgenommen“, sagt Yilmaz. Sie müssen sich plötzlich für die deutsche Geschichte, die ihnen vorher so fremd war, rechtfertigen. Zum ersten Mal begreifen sie, welche Verantwortung das Deutschsein in sich trägt. „Das ist etwas, das ihnen eine neue Perspektive auf ihre Identität bietet.“
Jugendliche werden rassistisch beleidigt – weil sie Muslime sind
Und dann bekommen sie am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie vielschichtig ihre eigene Identität ist. Jedes Jahr kommt es Yilmaz zufolge dazu, dass sie in Krakau rassistisch beleidigt werden, einmal wurden die Jugendlichen mit Zigarettenschachteln beworfen. Weil sie Muslime sind. „Das bringt sie durcheinander.“
Darüber sprechen die Jugendlichen, reflektieren das Erlebte. Ein KZ-Besuch wie es Chebli fordert könnte diese Komplexität an Gefühlen allein gar nicht auffangen, weiß Yilmaz. „Wenn Politiker fordern, dass man mit einem Gedenkstättenbesuch Antisemitismus verhindern kann, offenbart es, dass sie das Phänomen nicht verstanden haben.“
Abschluss in jüdischem Restaurant
Deshalb fordert der Pädagoge, dass Projekte wie seines besser finanziell unterstützt werden. Denn jedes Jahr müsse er mit seinen Kollegen darum zittern, ob sie die Fahrten im nächsten Jahr wieder anbieten können – trotz des Erfolges.
Zudem müsse die Lehrerausbildung auf Antisemitismus spezialisiert werden, sagt Yilmaz. „Und der Geschichtsunterricht muss verbessert werden, weil es für die nächsten Jahrzehnte noch wichtiger wird, die Migrationsgeschichte der Jugendlichen mit einzubeziehen.“
Nachdem die Jugendlichen drei Tage die Gedenkstätte besucht haben, folgt die Fahrt nach Krakau, wo es am letzten Abend ein großes Abschlussessen für die Muslimen gibt. In einem jüdischen Restaurant.