Naples. Ortsbesuch in Florida nach dem Hurrikan „Irma“: Die Verzweiflung bei den Betroffenen ist groß – doch von Klimawandel spricht niemand.

  • Der Hurrikan ist vorbei, doch viele Betroffene in Florida haben mit den Folgen zu kämpfen.
  • Viele Menschen sind weiterhin ohne Strom, vor den Tankstellen bilden sich lange Schlangen.
  • Weil viele Supermärkte noch geschlossen sind, gehen die Lebensmittelvorräte zu Ende.

Nach fünf Tagen ohne Elektrizität bei gefühlten 40 Grad schwülster Hitze, verfaulenden oder zur Neige gehenden Essens-Vorräten und geschlossenen Supermärkten, ungenießbarem Trinkwasser und kilometerlangen Schlangen vor den wenigen Tankstellen, die um Umkreis von 40 Kilometern wieder Sprit haben, ist Chelsea Jones mit den Nerven am Nullpunkt. „Die Reichen haben Strom, die Reichen werden bevorzugt“, sagt die 34-Jährige, die mit Ehemann Brandon und ihrem schwer behinderten Sohn Quinn (17 Monate) in „Golf View Manor“ lebt. Die Stimme der Krankenschwester bebt, die rot geweinten Augen hat sie hinter dunklen Sonnenbrillengläsern versteckt.

Dabei hat ihr Mittelklasse-Appartement-Komplex in Naples, im Südwesten Floridas ,„Irma“ einigermaßen gut überstanden. Das Dach ist dicht. Keine Scheibe ging zu Bruch. Wären nicht die entwurzelten Säbelpalmen und Zypressen vor der Anlage, man wüsste von der Zerstörungskraft des Hurrikans so gut wie nichts.

Chelsea Jones, Mutter eines behinderten Kindes, wartet verzweifelt auf Strom.
Chelsea Jones, Mutter eines behinderten Kindes, wartet verzweifelt auf Strom. © Dirk Hautkapp | Dirk Hautkapp

Für Jones ist das kein Trost. „Wir brauchen unbedingt Elektrizität. Mein Sohn ist auf gekühlte Spezialnahrung angewiesen. Die Behörden sagen, frühestens ab 22. September soll die Energieversorgung wieder funktionieren. Das ist doch viel zu spät.“ Wo sind nur die Reparatur-Trupps in ihren weißen Leiterwagen, die in diesen Tagen zu Hunderten in Florida unterwegs sind, um die kaputten Oberleitungen zu flicken und umgeknickte Masten zu ersetzen? Jones gibt sich selbst die Antwort: „Bei den Reichen.“

„Wir haben kein Zuhause mehr, alles ist unbewohnbar“

Gegenüber von „Golf View Manor“ haben Nancy und Doug Newkirk in der Mobilheim-Siedlung „Naples Estates“ ganz andere, elementare Sorgen. Nachdem Präsident Donald Trump mit dem Verteilen von Sandwiches, Bananen und aufmunternden Worten samt First Lady Melania im Hochsicherheits-Konvoi zurück zum Flugplatz geleitet wird, stehen die Rentner, beide Mitte 60, am Donnerstagnachmittag in ihrem Schlafzimmer und schauen immer noch fassungslos in den blauen Himmel.

„Irma“ (oder ein Tornado, den der Hurrikan im Schlepptau führte) hat das an sich stabile Aluminium-Dach wie eine Dose Sardinen geöffnet, zerknüllt und hundert Meter weiter fallen gelassen. Überall ragen kaputte Möbelstücke aus zerstörten Wänden. Auf der von Trümmern übersäten Wiese: Bettwäsche und Toilettenartikel. Manche Nachbarhäuser hat es noch ärger getroffen. Sie sehen aus, als hätte eine gigantische eiserne Faust auf sie eingeschlagen. „Wir haben kein Zuhause mehr“, sagt Nancy mit wackelnder Stimme und steckt sich eine neue Zigarette an, „alles ist unbewohnbar, wir müssen hier weg.“

Von der Versicherung gibt es keinen Penny

Doug Newkirk im Schlafzimmer seines zerstörten Hauses.
Doug Newkirk im Schlafzimmer seines zerstörten Hauses. © Dirk Hautkapp | Dirk Hautkapp

Weil ihr Mobilheim über 40 Jahre alt ist, zahlt keine Versicherung auch nur einen Penny. Die Newkirks setzen wie Zehntausende andere Sturmgeschädigte auf die „Fema“. Amerikas Katastrophenschutzbehörde, so hat es Präsident Trump nach Hurrikan „Harvey“ in Texas und jetzt nach „Irma“ felsenfest versprochen, soll die am härtesten getroffenen Familien „schnell wieder auf die Beine bringen“. Angeblich stehen 15 Milliarden Dollar zur Verfügung.

Und? „Sie haben mir heute gesagt, dass die Fema im Moment kein Geld für uns hat“, sagt Nancy Newkirk. „Vielleicht findet sich ein Ausweichquartier.“ Ihr linkes Augenlid zuckt, sie wischt sich den Schweiß von der Stirn. Die Fleischverkäuferin und ihr Mann, der an seiner Baseball-Kappe als Trump-Anhänger zu erkennen ist und es „ganz in Ordnung findet“, dass der Mann aus dem Weißen Haus sich die „Situation der einfachen Leute hier persönlich einmal ansieht“, wollen „irgendwie“ bei Verwandten im Norden unterkommen“.

Wohlhabende Floridianer sind gut abgesichert

Dort, genauer: in einem gediegenen Teil Tampas, war auch Doug Ross, als „Irma“ am vergangenen Sonntag südlich von Naples an Land tobte. Der 69-Jährige lebt mit seiner Frau Celine in einer schicken Residenz mit penibel manikürtem Rasen nahe des beliebten Tigertail-Strands auf Marco Island.

Das vor mehr als 50 Jahren von den Millionärs-Brüdern Mackle südlich von Naples als großzügige Feriensiedlung mit Häusern, Hotels, Yachthafen, Golfplätzen, Straßen und Kanälen konzipierte Refugium ist ein Ort für Menschen, die es geschafft haben. Und die am Lebensabend unter sich bleiben wollen.

Ross’ Immobilie hat Steg, Bootanschluss, zwei Garagen und „bis auf ein paar Kratzer und abgebrochene Äste“ nichts abbekommen vom Sturm. Weil auch in dieser Gegend der Strom noch nicht wieder überall zurück ist, geht das Paar in den bei 30 Grad drückend schwülen Nächten zu den Nachbarn. „Die haben Generatoren und eine gute Klima-Anlage.“

Der frühere Angestellte des Telekommunikations-Riesen AT & T ist nach der Pensionierung aus dem kalten Michigan hergezogen. An die Stürme in Florida, sagt er, „muss man sich einfach gewöhnen, wir haben im Norden dafür Blizzards und eisigen Wind“. Der Rest sei finanzielles Kalkül, gepaart mit Vorsorge. Doug Ross hat für sein Vier-Zimmer-Haus so gut wie jede Versicherung abgeschlossen, die man im Schadensfall gebrauchen kann. „Kostet mich ungefähr 12.000 Dollar im Jahr.“ Weil Florida keine eigene Einkommenssteuer verlange, sei das Ganze fast ein Nullsummenspiel. Wäre „Irma“ ihm wirklich aufs Dach gestiegen, Doug Ross hätte es spielend verkraftet.

„Wir müssen die Launen von Mutter Natur respektieren“

Drei Leute, drei Szenen. Sie illustrieren, wie unterschiedlich der gewaltigste Wirbelsturm seit Jahrzehnten in den USA in das Leben der Menschen in dem idyllischen Landstrich an der Golfküste nordwestlich der sumpfigen Everglades eingegriffen hat.

Was Chelsea Jones, das Ehepaar Newkirk und Doug und Celine Ross dagegen verbindet, ist eine ausgeprägte Unempfindlichkeit gegenüber dem Phänomen an sich. Niemand nimmt von sich aus im Gespräch das Wort Klimawandel in den Mund. Niemand macht die große Politik in Washington für irgendetwas (mit)verantwortlich. Niemand möchte thematisieren, was wohl nach „Irma“ kommt. Und ob man dann immer noch sagen kann: „Wir haben es mal wieder überlebt.“ Stellvertretend für alle steht ein Satz von Doug Newkirk, der seit 40 Jahren mit Hurrikans lebt und den man gerade oft hört in Florida: „Wir müssen die Launen von Mutter Natur respektieren.“

Müssen wir?

Florida ist besonders von Überflutungen bedroht

Überflutungen, ausgelöst durch Stürme, mehren sich nach Aufzeichnungen der Meteorologen seit Jahren im Südosten der USA. Florida gilt mit seinen tief liegenden Küstenlinien am Atlantik wie am Golf von Mexiko als besonders gefährdet, zumal die nationale Wetter- und Ozeanografie-Behörde NOAA erwartet, dass der Meeresspiegel bis zum Jahr 2060 um 60 bis 80 Zentimeter ansteigt.

Die in Naples ansässige gemeinnützige Gesellschaft „The Conservancy“, die sich gegen die fortschreitende Nutzung der sumpfigen Marschgebiete durch Immobilien-Entwickler wendet, hat erst vor wenigen Monaten gemeinsam mit der kalifornischen Universität von Santa Cruz eine Landkarte der Flutschäden-Risiken erstellt.

Umweltexperten halten sanfte Enteignung für geboten

Dabei kam heraus, dass es aus staatlicher Sicht sinnvoll wäre, vielen Hauseigentümern an den Küsten einen Anreiz zum Verkauf zu bieten – mit dem Ziel, die Immobilien später abzureißen. Der Grund verblüfft: 15.000 Hausbesitzer in Florida haben zwischen 1978 und 2011 rund 40.000 Schadensfälle nach Flutwellen geltend gemacht. Auch das sei ein Grund, warum das „National Flood Insurance Program“, eine staatliche Versicherung, die bis zu 350.000 Dollar auszahlt, zuletzt mit 23 Milliarden Dollar in den roten Zahlen steckte. Eine sanfte, finanziell angemessene Enteignung halten Umweltexperten für geboten. Des Klimas wegen. Die Immobilien-Firma CoreLogic hat errechnet, dass Florida im Jahr 2045 bedingt durch den Klimawandel bis zu 240 Flut-Ereignisse im Jahr haben wird. Heute sind es zehn.

Philip Levine versucht sich der drohenden Katastrophe mit teurer Kosmetik zu erwehren. Der Bürgermeister von Miami Beach sieht die internationale Top-Adresse als Mekka des Hochwasserschutzes. Binnen der kommenden fünf Jahre sollen 500 Millionen Dollar in höhere Strandmauern und Pumpen investiert werden, um Mensch und Meer zu trennen. Und um den Immobilien-Boom nicht abzuwürgen, der ein hohes Steueraufkommen garantiert.

Experten: Anstieg des Meeresspiegels „durch keinen Schutzwall aufzuhalten“

Wetter-Experten halten das für „Heftpflaster“-Politik. Der Anstieg des Meeresspiegels sei „durch keinen Schutzwall aufzuhalten“, heißt es in Washingtoner Denkfabriken. Die Umsiedlung von Bewohnern in akut gefährdeten Zonen sei die probatere Methode.

Kommt für Chelsea Jones, Nancy und Doug Newkirk und Doug und Celine Ross nicht infrage. Niemand von ihnen denkt offensiv daran, das Weite zu suchen. Sie würden es eher so halten wie Mark Treglio und seine Kollegen, die am Samstag aus Key West ganz im Süden der bekannten (und extrem flutgefährdeten) Inselkette Floridas zurück sein müssten. 165 Feuerwehrleute waren dort seit einer Woche von der Außenwelt so gut wie abgeschnitten. Mit der „Glacier Bay“, einem kleinen Motorboot, brachten die Männer von Marco Island aus Wasser, Medikamente, Brot, Konserven mit Thunfisch und Kreissägen an die Südspitze. Kreissägen, damit sich die Kollegen – falls nötig nach „Irma“ – ein neues Haus bauen können…