Köln. Nach den Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht in Köln wird zunehmend mehr über die Fehler der Polizei bekannt. Ein Überblick.

Die sexuellen Übergriffe gegen junge Frauen in der Silvesternacht in Köln und einigen anderen Städten sorgen für Fassungslosigkeit. Wer waren die Täter? Wie reagiert die Polizei?

Eine Woche nach den Angriffen gerät die Kölner Polizei ins Visier. Offenbar lagen den Verantwortlichen mehr Informationen zu den mutmaßlichen Angreifern vor, als sie bekanntgeben wollten. Zudem ist die Zahl der Anzeigen von zunächst 60 auf mittlerweile 121 gestiegen. Der Überblick.

Was ist passiert?

Ausschreitungen an Silvester 2015 am Kölner Hauptbahnhof. Die Aufnahmen entstanden zwischen 22 und 23 Uhr.
Ausschreitungen an Silvester 2015 am Kölner Hauptbahnhof. Die Aufnahmen entstanden zwischen 22 und 23 Uhr. © Youtube | Youtube

Die Silvesternacht in Köln: Auf dem Bahnhofsvorplatz hat sich eine große Gruppe von Männern versammelt. Böller werden gezündet, Raketen fliegen waagerecht durch die Gegend. Die Polizei hatte den Bahnhofsvorplatz zeitweise geräumt. Später sammelten sich dort jedoch wieder bis zu 1000 Personen an. Aus dieser Menschenmenge heraus sollen sich mehrere Gruppen mit jungen, teils alkoholisierten Männern gebildet haben, die in der Folge zahlreiche Frauen sexuell belästigt und ausgeraubt haben. Mehr als 121 Betroffene stellten später Anzeige bei der Polizei – wegen sexueller Belästigung oder Diebstahl. In einem Fall wird wegen Vergewaltigung ermittelt.

Auch in Hamburg kam es in der Silvesternacht zu sexuellen Übergriffen gegen junge Frauen. In der Hansestadt sollen mehrere Männergruppen in der Nähe der Reeperbahn Frauen begrapscht, eingekesselt und einige von ihnen ausgeraubt haben. Inzwischen gingen mehr als 50 Strafanzeigen bei der Hamburger Polizei ein.

• Berlin: Nach Informationen der „Berliner Morgenpost“ gab es auf der Silverstermeile vor dem Brandenburger Tor mindestens drei Fälle von sexueller Belästigungen. Jeweils zwei Frauen seien von je einem einzelnen Mann sexuell belästigt worden, sagte ein Polizeisprecher. Die mutmaßlichen Täter seien festgenommen worden. Sie sollen in einem Berliner Flüchtlingsheim gemeldet sein.

• Zwei weitere Vorfälle von sexueller Belästigung gab es demnach auch in anderen Berliner Stadtteilen, zudem in der Nähe der Fanmeile am Neujahrsmorgen. Die Ermittlungen laufen.

• Stuttgart: Auf dem Schlossplatz wurden in der Silvesternacht zwei 18-Jährige laut ihren Angaben von 15 Männern sexuell belästigt und beraubt.

• Frankfurt: Während zahlreiche Menschen am Mainufer den Jahreswechsel feierten, sollen zwei Gruppen junger Frauen von Männern begrapscht worden sein. Die Polizei hat eine Arbeitsgruppe aus sechs Beamten gebildet.

• Düsseldorf: Der Behörde lagen am Mittwochabend elf Anzeigen vor. Die Taten erfolgten am Bahnhof und in der Altstadt. Die Polizei spricht von „Straftaten der Eigentumskriminalität begangen von Gruppen junger Männer zum Nachteil von Frauen“.

• Dortmund: Betroffen sind vier Frauen, die jeweils zu zweit am Hauptbahnhof und in der Innenstadt unterwegs gewesen sind. Laut Polizei kam es am Bahnhof zu Übergriffen durch mehrere Männer, die sich aus einer rund 300-köpfigen Gruppe gelöst hatten. Sexuelle Belästigungen gehören laut Polizei allerdings bei Großereignissen zum „Lagebild“.

Gibt es Festnahmen?

Die Polizei in Köln hat 32 Tatverdächtige ermittelt. Zwei Männer, die am Sonntag einen Reisenden am Kölner Hauptbahnhof bestohlen und Frauen bedrängt haben sollen, sitzen in Untersuchungshaft. Am Freitag vermeldete die Kölner Polizei zwei Festnahmen. Bei den beiden Tatverdächtigen wurden Handys sichergestellt, die Videos von sexuellen Übergriffen enthalten sollen. Die Polizei prüft, ob sie und drei weitere Männer, die am Sonntag ebenfalls kurzzeitig festgenommen wurden, auch an den Übergriffen in der Silvesternacht selbst beteiligt waren.

Die Bundespolizei hat nach Angaben des Bundesinnenministeriums Ermittlungen gegen 31 Personen aufgenommen. Unter diesen 31 Verdächtigen sind laut Innenministerium 18 Asylbewerber. Auf eine Anfrage unserer Redaktion hieß es, dass es keine Angaben zu Überschneidungen zwischen den beiden Gruppen von Tatverdächtigen gibt. Ob insgesamt gegen 63 Tatverdächtige ermittelt wird, lässt sich also nicht sagen.

Welchen Hintergrund haben die Übergriffe?

Nach Angaben der Polizei handelt es sich bei dem Großteil der Fälle um eine bekannte Masche von Trickbetrügern: Um von der eigentlichen Tat abzulenken, dem Diebstahl von Wertgegenständen, werden die Opfer begrapscht. „In einigen Fällen gingen die Männer jedoch weiter und berührten die meist von auswärts kommenden Frauen unsittlich“, heißt es in einer Mitteilung der Polizei.

Wie viele Männer waren in Köln beteiligt?

Die genaue Zahl der Täter ist unbekannt. Die Übergriffe sollen aus kleinen Gruppen und solchen mit bis zu 20 Männern erfolgt sein. Wie groß der Täterkreis ist, lässt sich derzeit nicht sagen: Angaben variieren zwischen 40 und mehreren Hundert Beteiligten allein in Köln. Um die Vorfälle schnell aufzuklären, soll die Ermittlungsgruppe der Polizei nach einem Bericht der „Rheinischen Post“ auf 80 Mitarbeiter aufgestockt werden.

Wer sind die Täter?

Laut Zeugenberichten handelt es sich überwiegend um Männer, die dem Aussehen nach aus dem arabischen oder nordafrikanischen Raum stammen. Sie sollen etwa 15 bis 35 Jahre alt und der Polizei teilweise im Zusammenhang mit Trickbetrügereien bekannt sein. Am Dienstag hatte das NRW-Innenministerium mitgeteilt, die Ermittlungen seien schwierig. „Manchmal braucht der Rechtsstaat Zeit. Diese Zeit müssen wir ihm geben“, sagte Innenminister Ralf Jäger.

Der NRW-Landeschef der Gewerkschaft der Polizei, Arnold Plickert, warnte davor, einen Zusammenhang zur Flüchtlingsthematik herzustellen. „Wenn es Flüchtlinge gibt, die ein Problem damit haben, die Freiheitsrechte anderer Menschen zu respektieren, müssen wir mit aller Härte des Gesetzes gegen sie vorgehen“, sagte Plickert. Es dürfe aber nicht übersehen werden, „dass der Großteil der Menschen zu uns gekommen ist, weil sie in ihren Herkunftsländern ihres Lebens nicht mehr sicher sind“.

Wie ging die Polizei vor?

Die Polizei wurde von den Übergriffen offenbar überrumpelt. Laut Zeugenaussagen waren die Beamten vor Ort zunächst mit der Situation überfordert. Mithilfe von hinzugezogenen Kräften konnte die Menschenmenge auf dem Bahnhofsvorplatz schließlich aufgelöst werden. Einige Augenzeugen berichteten, dass sich die sexuellen Übergriffe erst danach in den Nebenstraßen ereigneten. Zu diesem Zeitpunkt war das Ausmaß der Attacken aber offenbar nicht ersichtlich: Die Polizei will jedoch erst im Nachhinein durch die vielen Anzeigen erfahren haben, was geschehen war.

Der Kölner Polizeipräsident räumte jedoch selbst ein, dass der Einsatz nicht gut gelaufen ist. Dass es im ersten Polizeibericht vom Neujahrstag hieß, die Einsatzlage an Silvester sei „entspannt“ gewesen, sei falsch: „Das war nicht in Ordnung.“ Dass es in der Menschenmenge sexuelle Angriffe gab, habe man zunächst nicht erkannt: „Dieses Phänomen war neu.“

Welche Fehler machte die Polizei?

Offenbar hatte die Polizeiführung mehr Informationen über die mutmaßlichen Angreifer – wollte diese aber verheimlichen. Das berichtet der „Kölner Stadt-Anzeiger“. Demnach sei den Verantwortlichen bereits früh in der Silvesternacht klar gewesen, dass es sich auf dem Bahnhofsvorplatz nicht nur um „Antänzer-Trickdiebe“, sondern auch um Männer aus Syrien, dem Irak und Afghanistan gehandelt habe. Dies deckt sich mit Aussagen von Polizisten, die in der Nacht im Einsatz waren.

Ein leitender Bundespolizist hatte am Donnerstag im WDR seine Erlebnisse geschildert. Demnach sei den Beamten mit dem Zerreißen von Aufenthaltstiteln gedroht worden. „Ihr könnt mir nix, hole mir Morgen einen Neuen“, soll dabei gesagt worden sein. Laut „Kölner Stadt-Anzeiger“ habe die Polizeiführung diese Information aber bewusst verschweigen wollen, da sie als „politisch heikel“ eingestuft wurde.

Wieso wurde erst spät über den Vorfall berichtet?

Da die Polizei über die Hintergründe der Taten nicht informierte, war auch den Medien das Ausmaß nicht klar. Erst nachdem lokale Medien die Vorfälle recherchierten, wurde die Dimension der Vorfälle deutlich. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ erhob Vorwürfe gegen die Polizei. Die Polizeiführung habe sich aufgeführt wie ein Verhörter, der nie mehr aussage, als er wirklich müsse, sagte der Chefredakteur der Zeitung, Peter Pauls, dem Evangelischen Pressedienst. Erst nach und nach sei klar geworden, dass die Pressemitteilung der Polizei vom Neujahrsmorgen, in der „friedliche Feiern“ beschrieben wurden, nicht der Wahrheit entspreche. „Montagabend war mir schlagartig klar, dass die Polizeiführung uns verlädt.“

Was sagt die Politik zum Polizeieinsatz?

Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker in einer Pressekonferenz zu den Vorfällen aus der Neujahrsnacht.
Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker in einer Pressekonferenz zu den Vorfällen aus der Neujahrsnacht. © dpa | Oliver Berg

Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker bezeichnete die Vorfälle als ungeheuerlich. Es könne nicht toleriert werden, dass rechtsfreie Räume entstehen. NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) sagte, die Kölner Polizei sei mit größerer Präsenz als in den Vorjahren vor Ort gewesen, habe aber mit diesen massiven Übergriffen nicht gerechnet. Jäger: „Die Polizei in Köln, aber auch die Bundespolizei, müssen im Detail erklären, wie es zu diesen Taten kommen konnte. Ich erwarte einen Bericht noch in dieser Woche. So etwas darf nicht wieder vorkommen.“

In der Bundesregierung gab es kontroverse Äußerungen und deutliche Kritik an der Kölner Polizei. Besonders deutlich wurde dabei Bundesinnenminister Thomas de Maizière: Zunächst sei der Vorplatz des Hauptbahnhofs geräumt worden „und später finden diese Ereignisse statt und man wartet auf Anzeigen. So kann Polizei nicht arbeiten“, sagte der CDU-Politiker. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) nahm dagegen die Polizei in Schutz. Zwar müsse sich die Polizei die Frage stellen lassen, ob sie die Vorfälle bereits in der Silvesternacht ernst genug genommen habe. „Es sollte jetzt aber auch keine vorschnellen Schuldzuweisungen geben“, sagte er unserer Redaktion. Aus der Polizeigewerkschaft wird de Maizière vorgehalten, dass Kräfte der Bundespolizei an den Bahnhöfen fehlen, weil sie in Bayern wegen der Flüchtlinge im Einsatz seien.

Was will die Politik jetzt tun?

Bundesinnenminister Thomas de Maizière brachte eine mögliche Verschärfung der Vorgaben für straffällige Asylbewerber ins Gespräch. Bislang gelte in Deutschland die Regel, dass sich erst eine Freiheitsstrafe von drei Jahren ohne Bewährung auf ein Asylverfahren auswirke, sagte de Maizière. „Wir werden darüber zu reden haben, ob das nicht geändert werden muss.“

Bundesjustizminister Heiko Maas kündigte an, dass die Täter „konsequent zur Rechenschaft“ gezogen würden. „Die abscheulichen Übergriffe auf Frauen werden wir nicht hinnehmen“, twitterte Maas. Er dringt darauf, Hinweisen nachzugehen, dass die Übergriffe vorab verabredet gewesen sein könnten. „Es wäre schön, wenn das keine Organisierte Kriminalität wäre, aber ich würde das gerne mal überprüfen, ob es im Hintergrund Leute gibt, die so etwas organisieren.“ So etwas passiere nicht aus dem Nichts, es müsse jemand dahinterstecken.

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Katrin Göring-Eckardt, Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Bundestag, fordert eine Bestrafung der Täter „mit der ganzen Härte des Gesetzes“. Hierbei dürfe es keinerlei Rolle spielen, ob die Verdächtigen Migrationshintergrund besäßen. „Da darf nichts relativiert werden“, sagte Göring-Eckardt der „Thüringer Allgemeinen“. „Es darf keine rechtsfreien Räume geben – ganz egal, ob hinter den Straftaten deutsche Staatsbürger, Ausländer oder Asylbewerber stecken.“

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Die ehemalige Frauen- und Jugendministerin Kristina Schröder hat „gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen in der muslimischen Kultur“ als Grund für die Straftaten ausgemacht.

Welche Konsequenzen zieht Köln?

In Köln will die Polizei jetzt nicht nur für angemeldete Großveranstaltungen ein extra Sicherheitskonzept erstellen, sondern auch für Ereignisse wie Silvester oder Karneval. Das bedeutet, dass sich eine „Koordinierungsgruppe“ auf das Ereignis vorbereitet. Der Ort des Geschehens soll bei Dunkelheit ausgeleuchtet werden. Mobile Videoteams der Polizei sollen unterwegs sein und auch von oben filmen. Ob vermehrte Videoüberwachung Straftaten verhindern kann, ist umstritten. Sie hilft aber eventuell bei der Aufklärung. Im anstehenden Karneval soll mehr Polizei unterwegs sein. Für bekannte Straftäter – auch Taschendiebe – soll es ein Verbot geben, den Ort der Veranstaltung zu betreten.

Was ist noch unklar?

• Wie groß ist der Täterkreis tatsächlich?

• Sind die Täter überhaupt zu ermitteln und kann ein Prozess stattfinden?

• Wie konnte es passieren, dass die Polizei in einer so zentralen Lage wie dem Kölner Hauptbahnhof keinen Überblick hatte?

• War die Vorgehensweise teil einer geplanten Reihe von Überfällen?

• Waren die Übergriffe organisiert und koordiniert? (sah/les/law/ac/dpa)