Auf dem Bahnsteig der Berliner U-Bahnstation Friedrichstraße haben zwei 18-Jährige einen 29 Jahre alten Mann zusammengeschlagen. “Zufälloge“ Brutalität, die schaudern lässt.

Berlin. Er sei in aggressiver Stimmung gewesen und habe Streit gesucht, gibt ein 18-Jähriger in Berlin als Motiv für seine Attacke in einem U-Bahnhof an. Opfer dieser momentanen Stimmungslage wurde ein 29-Jähriger, der mit schweren Kopfverletzungen ins Krankenhaus gebracht wurde. Ein Zufallsopfer, das wohl nur ein mutig einschreitender Zeuge vor Schlimmerem bewahrte. U- oder S-Bahnhof, streitlustige Jugendliche, Alkohol – immer wieder gab es in den vergangenen Monaten ähnliche Attacken.

Die Bilder des Angriffs am Sonnabendmorgen lassen schaudern: Nach kurzer Rangelei schlägt der 18-Jährige sein Opfer mit einer Flasche nieder, mit voller Wucht tritt er dann gegen den Kopf des Mannes, nur gegen den Kopf, immer wieder. Kurz tänzelt er einige Schritte beiseite, will dann erneut sein bereits regloses Opfer attackieren. Eine Zeuge mischt sich ein, drängt den 18-Jährigen weg – und bekommt von dessen zuvor weitgehend unbeteiligtem Kumpel einen Tritt. Dann verschwinden die Angreifer.

Noch am Wochenende stellen sich beide Täter – doch das Grauen bleibt. Nicht nur wegen der furchtbaren Bilder, sondern auch, weil die Attacke nicht in einem Problembezirk stattfand, sondern im schönen Mitte, dem geschäftigen Zentrum der Hauptstadt. Rund um den U-Bahnhof Friedrichstraße liegen Friedrichstadtpalast, Berliner Ensemble und andere Theater, die noblen Geschäfte der Friedrichstraße sind nah und etliche Touristenattraktionen.

Klar ist, dass es – nicht nur in Berlin – an fast jedem Wochenende ähnliche Angriffe gibt: alkoholumnebelte Gewaltausbrüche, denen keine Grenze gesetzt scheint. Bei denen selbst der Tod des Zufallsopfers hingenommen wird, mit Tätern, die manchmal fast noch Kinder sind. Nur halten eben selten Kameras die brutalen Szenen fest. Vor allem deshalb sind es die Vorfälle in U- und S-Bahnhöfen, die für Aufsehen und Rufe nach mehr staatlichem Eingreifen sorgen.

Erst im Februar hatten Jugendliche einen 30-Jährigen auf dem U-Bahnhof Berlin-Lichtenberg überfallen und schwer verletzt. Er lag wochenlang im künstlichen Koma, konnte nach dem Erwachen kaum sprechen und laufen. Vier Täter, zur Tatzeit 14 und 17 Jahre alt, sitzen in Untersuchungshaft. Auch hier zeigen die Videobilder hemmungslose Gewalt: Mit hochgerissenem Bein rammt einer der Täter den 30-Jährigen zu Boden. Nur wenige Tage später neue Bilder: Diesmal ist es ein 45-Jähriger, der in einem U-Bahnhof mit Tritten ins Gesicht traktiert wird.

„Was guckst du?“ wird im Mai 2010 ein 19-Jähriger in Hamburg angeblafft. Kurz darauf ist er tot, erstochen von einem 16-jährigen Intensivtäter. Schauplatz ist der S-Bahnhof Jungfernstieg – an dessen Ausgang die Hochglanzfassaden nobler Edelläden beginnen. Im Dezember wird der Jugendliche zu sechs Jahren Haft verurteilt.

Besonders nachhaltig aber erschütterte der Tod des Geschäftsmannes Dominik Brunner die Öffentlichkeit. Der 50-Jährige wird am Münchner S-Bahnhof Solln von zwei Jugendlichen zusammengeschlagen, nachdem er vier Schüler vor Pöbeleien schützte. Er stirbt im Krankenhaus. Das Gericht wertet die Tat als Mord, das Urteil sieht lange Haftstrafen vor.

Die Attacken haben eines gemeinsam: Die jungen Täter schlagen und treten in einer Orgie blinder Gewalt selbst dann noch zu, wenn ihr Opfer längst am Boden liegt. Der Tod eines unbekannten, völlig unschuldigen Menschen wird billigend in Kauf genommen. Enthemmung durch Alkohol kann dafür nicht allein die Erklärung sein.

Reinhold Baier, Richter im Fall Brunner, sieht eine neue Intensität bei Gewalttaten Jugendlicher. „Da geht's nicht mehr um die Freundin, die einem ausgespannt wurde. Oder um einen lang schwelenden Konflikt. Heute wird offenbar einfach Frust entladen, das entsteht aus dem Nichts“, sagte er im vergangenen Jahr in einem Interview. Prügeleien habe es früher auch gegeben, aber „wenn der Kampf gewonnen war, hat man nicht nachgetreten“.

„Oft habe ich bei Gewalttätern den Eindruck, dass es ihnen mangelt an Schuldempfinden, an Rücksichtnahme“, resümierte 2010 der Münchner Jugendpsychiater Joseph Freisleder, der in zahlreichen Prozessen Gutachter war, in der „Süddeutschen Zeitung“. Der Kriminologe Christian Pfeiffer ist überzeugt, die Ursache für die blinde Gewalt sei vor allem im sozialen Hintergrund zu suchen. Mangelndes Selbstbewusstsein werde mit „überbetontem Macho-Gebaren“ kompensiert, sagte er nach der tödlichen Attacke in Hamburg. Viele Jugendliche seien geprägt von innerfamiliärer Gewalt, einer hohen Akzeptanz der Macho-Kultur und männlichen Gewaltvorbildern aus Filmen und Computerspielen.