An der Odenwaldschule soll es einem vorläufigen Abschlussbericht nach deutlich mehr Opfer gegeben haben als bisher bekannt.

Heppenheim. An dem Eliteinternat im südhessischen Heppenheim, der Odenwaldschule, hat es deutlich mehr Fälle von sexuellem Missbrauch gegeben als bislang bekannt. Der am Freitag von der Odenwaldschule veröffentlichte Abschlussbericht über sexuellen Missbrauch an der Odenwaldschule nennt 132 Opfer in den Jahren von 1965 bis 2004. Doe Frankfurter Juristin Brigitte Tilmann sagte bei der Vorstellung des Berichts: "Doch das sind nicht alle, die Dokumentation bleibt unvollständig.“Die offizielle Zahl hatte bislang bei 70 Opfern gelegen.

Die pensionierte Richterin Tilmann verlor am Ende ihres Berichts über den Missbrauch an der Odenwaldschule jede Zurückhaltung: "Wäre ich Staatsanwältin, forderte ich für Gerold Becker über zehn Jahre Gefängnis. Er war Päderast und ein Haupttäter.“

Becker, der im Juni in Berlin gestorben war, zählte zu Deutschlands renommiertesten Reformpädagogen. Becker leitete die Odenwaldschule vob 1969 bis 1985 und leugnete jahrzehntelang seinen sexuellen Missbrauch von Schülern und entschuldigte sich erst kurz vor seinem Tod bei seinen Opfern. Tilmanns Abschlussbericht, den sie zusammen mit der Wiesbadener Strafrechtlerin Claudia Burgsmüller ausgearbeitet hat, spricht von Betroffenen statt von Opfern. In dem Bericht gibt es fünf Stufen, welche die schwere des Missbrauchs anzeigen. Die Dokumentation listet als "Stufe eins“ des Schweregrads eines Missbrauchs Situationen auf, in denen Schüler als Beobachter einen sexuellen Übergriff miterleben mussten. Als schlimmsten Fall, Stufe fünf, nennt der Bericht Vergewaltigung.

An der Privatschule im Odenwald wurden hauptsächlich in der Zeit von 1965 bis 1989 wurden an der Privatschule im Odenwald laut der nun vorliegenden Dokumentation 115 männliche Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht, 101 von ihnen schwerer, als es Stufe eins bezeichnet. Das gleiche Schicksal erlitten 15 Mädchen. Das jüngste Opfer war 7 Jahre alt, das älteste 17. Der Bericht listet ab 1990 noch drei Einzelfälle auf, den letzten im Schuljahr 2003/04. Der jüngste Fall sei dem geschehenen systematischen Missbrauch an dem Internat jedoch nicht zuzurechnen, urteilten die Juristinnen.

Die Zahl der tatsächlich missbrauchten Schüler dürfte noch größer sein, als es der Bericht auflistet. "Die Dokumentation bleibt unvollständig“, erklärten die im März von Schulleiterin Margarita Kaufmann um Hilfe bei der Aufklärung gebetenen Juristinnen. "Wir wissen um ein fortbestehendes Dunkelfeld“, sagte Burgsmüller. Fest stehe auch, dass ein Missbrauch oft über Jahre fortgeführt worden sei. Ausdrücklich genannt sind in der Dokumentation elf "Selbsttötungen“ ehemaliger Odenwaldschüler. Dabei gebe es auch Hinweise auf "Missbrauchshintergründe“, ergänzte Burgsmüller.

"Für mich sind Täter auch Täter, wenn sie nie verurteilt wurden“, bekannte Tilmann. Namentlich als "Täter“ nennt der Bericht neben Becker den 2006 gestorbenen Internatslehrer Wolfgang Held und seine Kollegen Jürgen K. und Gerhard T., außerdem zwei weitere Lehrer, eine Lehrerin, sechs andere Mitarbeiter der Schule und vier Schüler. Alle Taten sind verjährt. Die Miene der beiden Juristinnen erhellte sich am Freitag nur einmal. "Nur zu gerne!“, sagte Burgsmüller auf die Frage, ob es geschehen könne, dass ein wegen seiner namentlichen Nennung erboster noch lebender "Täter“ gegen sie vorgehe.

Bevor sie mit der Aufklärungsarbeit begonnen habe, habe sie gehofft, den Betroffenen, die sich gemeldet hätten, Erleichterung verschaffen zu können, berichtete Tilmann. "So war es aber nicht immer.“ Zu gravierend waren die Folgen des Missbrauchs. Eine "Vielzahl“ der ausführlich befragten Opfer leide noch heute unter "Traumafolgen“ des Missbrauchs. "Und auch ein weiteres Mal änderte ich meine Meinung.“ Sie sei als Richterin stets gegen eine Verlängerung der Verjährungsfrist von jetzt zehn Jahren bei Fällen schweren sexuellen Missbrauchs gewesen. "Jetzt nicht mehr.“

Mit der Vorlage des Berichts solle die Schule nun in die Lage versetzt werden, "Schutzmechanismen“ zu entwickeln, sagten die Juristinnen. "Auch wenn an der Odenwaldschule sexueller Missbrauch gar nicht mehr vorkommt.“ Das Internat habe sie bei der Aufklärung rückhaltlos unterstützt. Schulleiterin Kaufmann war der Bericht am Freitagvormittag ausgehändigt worden. Kaufmann kündigte für den Februar an, Summen für Entschädigungszahlungen an die Opfer nennen zu können. (abendblatt.de/dapd)