Die Odenwaldschule feiert vier Tage lang ihr 100-jähriges Bestehen. Ein Bericht geht nun von mehr als 50 Missbrauchsfällen an dem Internat aus.

Heppenheim. Inmitten der hochgiebeligen steinernen Schulhäuser, die sich an die Hänge des Odenwalds schmiegen, ist ein Zirkuszelt für die Hunderte von Besuchern und Ex-Schülern aufgebaut worden. Idyllischer hätte sich die Odenwaldschule am Donnerstag zu ihrem 100-jährigen Bestehen im hessischen Heppenheim nicht präsentieren können.

Doch zum Auftakt der Festlichkeiten an dem Eliteinternat wird auch eine neun Seiten umfassende „Chronik des Schreckens“ vorgelegt, wie Schulvorstandssprecher Johannes von Dohnanyi feststellt. Das Jubiläum will der vor sechs Wochen eingesetzte neue Schulvorstand zur schonungslosen Aufarbeitung des Skandals nutzen.

Zwei von der Schule beauftragte Juristinnen kommen in einem Zwischenbericht zum Ergebnis, dass wohl mehr als 50 Schüler in den vergangenen 45 Jahren missbraucht wurden. „Wir sind noch lange nicht am Ende“, sagt die ehemalige Präsidentin des Oberlandesgerichts Frankfurt, Brigitte Tilmann.

Etwa 700 Fälle sind bei der bundesweiten Anlaufstelle in Berlin seit April dokumentiert worden. „Täglich kommen neue hinzu“, sagt die Beauftragte der Bundesregierung für sexuellen Missbrauch, Christine Bergmann. Der Missbrauch liegt oft Jahrzehnte zurück. Und über die Hälfte derjenigen, die sich schriftlich oder bei der Hotline melden, hat über das erlittene Leid noch nie zuvor gesprochen.

Alle Experten sind sich am Donnerstag auf einer Podiumsdiskussion einig, dass die Gesellschaft noch viel stärker sensibilisiert werden müsse. Bergmann beklagte, es gebe vor allem für missbrauchte Jungen kaum Beratungsstellen. Der Missbrauch von Jungen durch Frauen werde verharmlost, sagt Julia von Weiler, Geschäftsführerin der Hilfsorganisation Innocence in Danger. „Wir im Sport müssen aufpassen und wir müssen reagieren“, räumt der Vorsitzende der Deutschen Sportjugend, Ingo Weiss, ein.

Der Odenwaldschule , die bis Sonntag mit 2000 Besuchern rechnet, empfehlen die mit dem Bericht beauftragten Juristinnen eine Selbstverpflichtung für alle Lehrer beim Thema Missbrauch. Kinder und Jugendliche dürften auch nicht mehr allein in die Wohnungen von Lehrern gehen.

Der Ex-Schüler Peter von Kohl schlägt vor, dass die Kinder in den Klassenzimmern auf Plakaten auf Missbrauchs-Gefahren aufmerksam gemacht werden müssten. Der 67-jährige Däne, der an der Schule mit den „schönsten Teil seines Lebens“ verbracht hat, ist selbst Lehrer in seinem Heimatland. Beim Jubiläum will er der Schule Mut zu Veränderungen machen. Das Internat will, wie Vorstandssprecher von Dohnanyi ankündigt, die Strukturen umfassend umkrempeln.

Ex-Schulleiter Gerold Becker, der heute als alter und kranker Mann in Berlin lebt, soll allein 17 Jungen im Internat missbraucht haben. Gegen Becker wie gegen mehrere andere Ex-Lehrer an dem reformpädagogischen Landschulheim, wo Schüler und Lehrer auf engstem Raum zusammenleben, hat die Staatsanwaltschaft Darmstadt ihre Ermittlungen vor wenigen Wochen wegen Verjährung eingestellt.