Urteil gegen Deutschland: Magnus Gäfgen, der Jakob von Metzler tötete, wurde von Behörden “unmenschlich“ behandelt

Straßburg. Er entführte den elf Jahre alten Bankierssohn Jakob von Metzler, er klebte dem Kind Mund und Nase zu und ließ es qualvoll ersticken. Er warf die Leiche in einen Weiher.

Magnus Gäfgen, so urteilte der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte gestern, ist ein Opfer der deutschen Behörden, weil ihm Ermittler während eines Polizeiverhörs Gewalt angedroht hatten. Ein Mörder als Opfer des Rechtsstaats. Ein Mörder, der von der Bundesrepublik Deutschland Schmerzensgeld fordert.

Im September 2002 hatte Gäfgen Jakob von Metzler entführt und getötet. Von Jakobs Eltern forderte er eine Million Euro Lösegeld. Gäfgen war pleite, wollte aber seinen Freunden weiter vorgaukeln, er könne sich Luxus-Urlaube locker leisten. Nach der Lösegeldübernahme wurde er festgenommen.

Beim Verhör schwieg Gäfgen. Der damalige Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner ordnete an, dass Gäfgen Schmerzen angedroht werden sollten - unter ärztlicher Aufsicht. Daschner wähnte Jakob noch am Leben und befürchtete, dass das Kind an Kälte und Hunger sterben würde. Gäfgen gestand den Mord und verriet das Versteck der Leiche. Mit dem Geständnis begann der Streit: Deutschland diskutierte über die Zulässigkeit der Folterdrohung, wenn dadurch Menschenleben gerettet werden. Für viele war und ist Daschner ein Held.

Als der Mordprozess 2003 begann, erklärten die Richter, dass die Androhung von Folter gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und das Grundgesetz verstößt. Alle bis dahin gemachten Aussagen wurden für ungültig erklärt. Gäfgen wiederholte jedoch vor Gericht sein Geständnis, die Richter verurteilten ihn wegen Entführung und Mordes zu lebenslanger Haft. Eine Freilassung auf Bewährung ist frühestens nach 18 Jahren Gefängnis möglich.

Wolfgang Daschner wurde wegen Anstiftung zur Nötigung schuldig gesprochen und verwarnt. Er arbeitet heute im hessischen Landespolizeipräsidium.

Gäfgens Weg durch die Instanzen begann: Seine Revision wies der Bundesgerichtshof 2004 als unbegründet zurück, im gleichen Jahr scheiterte er mit einer Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht. 2005 reichte er Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Er forderte, dass Deutschland verklagt wird, weil ihm Folter angedroht wurde. Und weil er sein Verfahren als unfair erachtet, einen neuen Prozess will.

Ein Hamburger Strafrechtsprofessor kritisiert das Urteil als falsch

Das Straßburger Urteil ist für den heute 35-Jährigen ein Teilerfolg: Deutschland hat gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen. Die Richter werteten Gäfgens Behandlung als unmenschlich, aber nicht als Folter. Der Gerichtshof rügt, dass die "Bestrafung der Polizeibeamten nicht den notwendigen Abschreckungseffekt hatte". Sein Hauptziel erreichte Gäfgen aber nicht: Sein Prozess wurde als fair bewertet. Die Richter deuteten an, dass es keinen neuen Prozess geben muss. Trotzdem will Gäfgens Anwalt Michael Heuchemer ein Wiederaufnahmeverfahren in Deutschland prüfen. Heuchemer bezeichnete das Straßburger Urteil als "guten Tag für die Menschenrechte": "Das Folterverbot ist unabwägbar", sagte er dem Abendblatt. "Diese Methoden haben in Deutschland und Europa nichts verloren." Als Nächstes wird Gäfgen Prozesskostenhilfe und Schmerzensgeld von der Bundesrepublik fordern. Ein Verfahren läuft bereits.

Der Hamburger Strafrechtsprofessor Reinhard Merkel hält die Entscheidung des Gerichtshofs für falsch. "Die Androhung der Schmerzzufügung als Druckmittel, um einen unrechtlichen Willen zu brechen, ist gerechtfertigt", sagte Merkel dem Abendblatt. "Der Fall Gäfgen war keine Folterdrohung, um ein Geständnis aus ihm herauszupressen. Es war eine Drohung zum Stoppen eines Mordanschlags. Den Mordwillen darf und muss der Staat brechen." Dass dies durch tatsächliches Zufügen von Schmerzen nicht geschehen darf, sei eine ganz andere Frage, die aber nicht zur Debatte stand.

Die Eltern des ermordeten Jakob von Metzler zeigten sich erleichtert, dass ein neuer Prozess unwahrscheinlich ist. Denn jeder zusätzliche Prozesstag bedeutet neue Schmerzen.