Im Saal herrscht Fassungslosigkeit, als Ärzte schildern, wie sie das Kind vorfanden. Der Vater immerhin räumt ein: “Ich habe versagt.“

Schwerin. Stefan T. (26) spricht nicht selbst. Was er zum Tod seiner Tochter mitzuteilen hat, lässt er verlesen. Er, T., habe den Zustand von Lea-Sophie als nicht so schlimm angesehen, trägt sein Anwalt Ralph Schürmann vom Blatt vor. Es ist die Schilderung einer immer rasanter werdenden Entfremdung, einer Spirale in eine todbringende Gleichgültigkeit. "Wir haben nicht wahrhaben wollen, was wir hätten erkennen können." Der Jurist liest schnell, manchmal verhaspelt er sich beim Namen der Fünfjährigen, die vor fünf Monaten verhungert ist - unter den Augen von Vater und Mutter.

T. sitzt neben ihm, den Blick starr nach unten gerichtet. Ein schmächtiger Mann in dunklem Anzug und schwarzem Hemd. "Ich habe als Vater versagt", lässt er vortragen. Und: "Es tut mir alles unendlich leid." Auch jetzt hebt T. nicht den Kopf. Doch unverkennbar ist, dass er geweint hat. Nicole G. (24), Lea-Sophies Mutter, sitzt im dunklen Nadelstreifenanzug links von ihm, dazwischen die Anwälte. Teilnahmslos wirkt die Frau mit dem aschblonden Haar, wie erstarrt. Auch ihren Lebensgefährten schaut sie nicht einmal an.

Tag eins im Prozess gegen die Eltern von Lea-Sophie. Unter dem Blitzlichtgewitter der Fotografen wurden Nicole G. und Stefan T. am Morgen im Saal 1 des Schweriner Landgerichts geführt. 60 Augenpaare registrieren jede Bewegung, das Aufschnappen der Handschellen. Die Anklage lautet: gemeinschaftlicher Mord durch Unterlassung und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Richter Robert Piepel steht vor der schwierigen Aufgabe, das Unfassbare zu klären, während er selbst ein ums andere Mal um Fassung ringt: Warum konnten diese Eltern ihr Kind verhungern lassen? Die Höchststrafe ist lebenslänglich.

Grausam, so Staatsanwalt Jörg Seifert, hätten sie einen Menschen getötet, "gefühlskalt und mitleidlos". Seine Anklageschrift beschreibt den qualvollen Leidensweg des Kindes. Danach verweigerte Lea-Sophie nach der Geburt ihres Bruders Justin im September 2007 das Essen. Nicole G. und Stefan T. hätten sich nach anfänglichem Bemühen immer weniger um sie gekümmert, das Kind verwahrlosen lassen. Die Fünfjährige sei dramatisch abgemagert, habe sich zum Schluss nicht mehr eigenständig bewegen können. Als sie anfing wieder in die Hose zu machen, hätten die Eltern ihre Tochter "in Kot und Urin sitzen lassen", sie damit "gequält", "roh misshandelt" und so schließlich sterben lassen, lautet das Fazit der Ermittler. Zum Schluss wog die Fünfjährige mit ihren 95 Zentimetern Körpergröße noch 7395 Gramm. Doppelt so viel wäre normal gewesen. "Sie waren sich des lebensbedrohlichen Zustands bewusst", sagt Seifert. Kurz nachdem sie ins Krankenhaus gebracht worden war, starb Lea-Sophie am 20. November vergangenen Jahres. Einen Tag später wurden die Eltern verhaftet.

Es ist ein Fall, der Menschen im ganzen Land erschüttert. Und bei dem sich viele einmal mehr die Frage stellen, ob denn niemand etwas gelernt hat aus den vergleichbaren Schicksalen, für die Namen wie Jessica aus Hamburg, Kevin aus Bremen, Dennis aus Cottbus, Timm aus Elmshorn oder Leon aus Stade gleichsam zu Synonymen wurden?

Der Rostocker Psychiater Frank Häßler äußert im Schweriner Gericht die Befürchtung, dass es eher noch mehr solcher Fälle geben werde: "Die Wertschätzung für Kinder in der Gesellschaft hat abgenommen."

Stefan T. immerhin zeigt vor seinen Richtern Reue. Es ist zu spät. Seine Tochter ist tot. Er habe "keine enge Beziehung" zu ihr gehabt, liest sein Anwalt vor. "Ich konnte nicht richtig mit ihr spielen. Das hat Nicole getan." T. beschäftigte sich stattdessen mit Computern und den Fischen, Hunden, Katzen, Wellensittichen und Meerschweinchen, die mit in der Wohnung lebten. Als Lea-Sophie nach Justins Geburt anfing zu bocken, nicht mehr essen wollte, hätten sie mit ihr gesprochen. "Aber alle Appelle an die Vernunft halfen nicht." Überall in der Wohnung habe es Lebensmittel gegeben. "Ich dachte, dass sie sich mit Süßigkeiten versorgt." Wie dramatisch es um sein Kind stand, will Stefan T. nicht bemerkt haben. Erziehung und Verantwortung für seine Kinder habe er seiner Freundin überlassen. "Wir haben nie darüber geredet. Ich war überzeugt, dass wir es schaffen mussten."

Allein. Ohne Hilfe von einem Arzt oder dem Jugendamt, deren Vertreter sie mit falschen Angaben täuschten. Bis zum Schluss und wohl aus Angst, die Kinder zu verlieren. Es ist auch die Mitverantwortung der Behörde, die diesen Fall besonders macht (siehe Text unten auf dieser Seite). Die Großeltern waren mehrfach beim Jugendamt gewesen, hatten über eine mögliche Gefährdung von Lea-Sophie informiert.

Wie es Ende November wirklich um die Kleine stand, schildern die als Zeugen geladenen Ärzte. Der Vater Stefan T. hatte Notarzt Detlef Thiele (45) an jenem 20. November kurz nach 19 Uhr dann doch in die Wohnung in Schwerin-Lankow gerufen. "Das leblose Kind lag auf dem Fußboden in seinem Zimmer", berichtet der Mediziner. Der Vater habe davor gekniet, mit den Schultern gezuckt. Nur mühsam kann der erfahrene Arzt seine Fassungslosigkeit in Worte fassen. "Die Haare waren schütter, Arme und Beine viel zu dünn, jede Rippe war zu sehen." Mit seinem Team versuchte Thiele das leblose Kind zu versorgen, 45 Minuten nach der Alarmierung erreichten sie mit Lea-Sophie die Intensivstation. In seiner Erstdiagnose schreibt Thiele: "Verdacht auf Misshandlung durch Unterernährung und Verwahrlosung."

Auch Kinderarzt Dirk-Rainer Böttcher (59) fällt es schwer zu schildern, wie sie versuchten, Lea-Sophie zu retten. "Sie war in einem katastrophalen Zustand, völlig unterkühlt. Ihr kleiner Körper war mit Geschwüren übersät." Noch nie habe er ein so unterernährtes Kind gesehen. Man habe sie erst grob sauber gemacht, dann langsam versucht zu stabilisieren. "Aber da war keine Energie da." Um 23 Uhr starb Lea-Sophie. "Sie war nicht zu retten. Ein, zwei Wochen früher hätte man Chancen gehabt."

Stefan T. lässt erklären: "Es ist die härteste Strafe für einen Menschen. Ich wollte nicht, dass meine Tochter stirbt." Nicole G. schweigt den ganzen Tag.