Kardelen und ihr mutmaßlicher Mörder wohnten keine 20 Meter voneinander entfernt. In diesen schmucklosen gelben Mietskasernen von Paderborn leben viele Familien. Das sieht man an Bergen von Turnschuhen im Hausflur, an Kinderwagen im Erdgeschoss. Doch Kinder sind hier seit drei Wochen nicht mehr allein auf der Straße zu sehen: Seit dem Tag, als die kleine türkischstämmige Kardelen verschwand.

Paderborn. Seit Mittwoch scheint nun festzustehen: Ein 29- Jähriger aus dem Nachbarhaus war es, der die Achtjährige mit den langen braunen Haaren missbraucht und erstickt hat.

Rund 1000 Hinweise hat die Kriminalpolizei seit Mitte Januar erhalten, doch das entscheidende Indiz hielten die Ermittler schon früh in den Händen. Der Tatverdächtige hatte am Fundort von Kardelens Leiche eine Visitenkarte hinterlassen - wenn auch nicht seine eigene. Doch diese Karte eines Juweliers aus der Türkei führte die Ermittler schließlich zu dem 29-Jährigen Mann aus Kardelens Siedlung. Am Montag durchsuchten die Beamten seine Wohnung. "Die DNA am Fundort der Leiche stimmt mit der DNA überein, die in der Wohnung gefunden wurde", schildert Jürgen Heinz, Leiter der Mordkommission.

Auffällig ist auch: Der Arbeitslose und seine 26 Jahre alte Frau sind seit dem Tag nach Kardelens Verschwinden nicht mehr gesehen worden. Zeugen hatten das Paar damals mit einem Rollkoffer aufbrechen sehen. Die Nachbarn sagten der Polizei, beide seien vermutlich bei dem kranken Vater des Mannes in Aydin im Westen der Türkei. "Die Wohnung macht einen ordentlichen Eindruck und sieht nicht nach Flucht aus", fügt Heinz aber hinzu.

Vor der unscheinbaren Wohnungstür aus Buchenfurnier liegt eine Fußmatte mit der Aufschrift "Willkommen". Über der Klinke klebt ein silbernes Polizeisiegel. In diesem Flur traf das Kind möglicherweise auf seinen Mörder. Ein Bekannter von Kardelens Familie geht gerade die Treppe hinab. "Der Mann war immer höflich, ruhig und unauffällig." Der grauhaarige Türke kämpft mit den Tränen. "Ich kannte Kardelen. Die deutsche Justiz ist viel zu milde. Wir werden den Mann finden." Der 46-Jährige schlägt sich auf die Brust. "Wir kriegen ihn - und dann kriegt er seine Strafe."

Noch immer hängen in Paderborner Straßen Plakate mit Kardelens Foto und den Aufschriften "Mordkommission bittet um Mithilfe" oder "Polis cinayet ekibi yardiminizi istiyor". Ein riesengroßes Plakat ist an einen Baum in Kardelens Straße geklebt. Die Reihe der Grab- Kerzen vor mehr als ein Dutzend Stofftieren ist hier bereits sechs Meter lang. Ein großer orangener Teddybär ist vom Regen verwaschen.

Erleichterung, Zorn, Überraschung: Die Nachbarn von Kardelens Familie erleben an diesem Mittwoch ein Wechselbad der Gefühle. "Das hätte ich nie gedacht", sagt Erdal Emace. "Es ist ein Schock, dass er aus der Nachbarschaft kommt", schildert der 16-Jährige. Ein Gruppe von zehn Jugendlichen schirmt höflich und schweigsam das Haus von Kardelens Eltern von Kamerateams ab, noch effektiver als die Polizeibeamtin. Die Siedlung ist für ihren Zusammenhalt bekannt. Ein Großteil der Menschen kommt aus der Türkei, viele aus dem selben Dorf Ordu am Schwarzen Meer. Der Verdächtige, der nun mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, und seine Frau lebten dagegen zurückgezogen.

Ein 22-jähriger Kaufmann aus der Straße kennt den Verdächtigen flüchtig aus dem Fußballverein. Kreisliga. "Er hat keine Chance gehabt. Er ist nach zwei Spielen rausgeflogen." Und dann erinnert er sich an die Begegnung an dem Abend, als Kardelen verschwand. "Seine Frau fragte: "Was ist hier los?". Wir sagten: "Ein Kind wird vermisst." Da hat er sie am Arm genommen und in die Wohnung gezogen."