Der Fall des “Waldjungen“ erinnert an den Fall aus dem 19. Jahrhundert. Warum wird Ray nicht vermisst? Die Behörden stehen vor einem Rätsel.

Berlin. Fünf Jahre lang will er im Wald gelebt haben, doch seine Haare, Hände und Fingernägel waren sauber. Durch viele Städte und Länder will er mit seinem Vater gewandert sein. Er habe ihn nach dessen Tod 2011 im Wald beerdigt. Doch die Polizei fand keine Leiche. Auch neun Monate nach seinem Auftauchen im Berliner Roten Rathaus stellt der Junge, der sich Ray nennt und anfangs auf Englisch kommunizierte, die Behörden vor Rätsel.

Nun soll ein Foto die Identität des jungen Mannes klären, den die Ermittler zwischen 16 und 20 Jahre ansiedeln. Längst hegt das Jugendamt (Ray lebt in einer betreuten Wohngemeinschaft und hat einen Vormund) Zweifel an seiner Geschichte. Doch wie das Rätsel lösen? Alle Fahndungen der Polizei, auch über Interpol, blieben bisher ohne Ergebnis. Niemand scheint den Jungen zu vermissen. Auch die Ärzte sind bei Ray nicht weitergekommen, zumal der sich bei Fragen nach seiner Vergangenheit "quergestellt" habe, sagt ein Sprecher der Berliner Polizei. Auch habe Ray erst jetzt zugestimmt, sein Foto freizugeben. Nun wird der Junge auch wieder international gesucht. Ein Brite oder US-Amerikaner jedoch sei Ray wohl nicht, so die Polizei: "Die Sprachermittler haben festgestellt, dass er kein Muttersprachler ist." Mittlerweile spreche der 1,80 Meter große Junge "schnell und gut" Deutsch.

Denkbar ist, dass der Junge, der vor dem angeblichen Tod des Vaters im August 2011 auch Mutter Doreen (Ray trug eine Kette mit dem Buchstaben D) verloren haben soll, unter einer Gedächtnisstörung leidet. "Ursachen für eine Amnesie kann entweder ein Schädel-Hirn-Trauma sein - etwa durch einen Sturz - oder ein psychologisches Trauma", erklärt Dirk Sander vom Benedictus-Krankenhaus Feldafing. Es komme häufig vor, dass Menschen sich verirren, nicht mehr wissen, wer und wo sie sind. Dabei handele es sich allerdings um kurzfristige Gedächtnisstörungen - "solche Fälle sind meist binnen 24 Stunden gelöst". Bei permanenten Amnesien, beispielsweise nach einem Autounfall, könnten auch Jahre an Erinnerungen verloren gehen. "Dass jemand jahrelang im Wald lebt, ohne genau zu wissen, wer er ist und wo er herkommt, habe ich noch nie gehört", sagt Sander.

Wer ist der Berliner "Waldjunge" Ray? Polizei ratlos

Der Jugendliche aus dem Wald: Trotz Foto keine Hinweise

Das Schicksal solcher "Männer ohne Gedächtnis" bewegt die Öffentlichkeit immer wieder. Nicht alle Fälle lassen sich klären, einige enden mit einer Überraschung oder auch unspektakulär. Aus dem 19. Jahrhundert ist der Fall des Kaspar Hauser überliefert, der 1828 in Nürnberg als Jugendlicher ohne Identität auftauchte. Gerüchteweise sollte er sogar der Erbprinz von Baden sein, der bei der Geburt ausgetauscht wurde, um einer Nebenlinie des Fürstenhauses die Thronfolge zu ermöglichen. Der Beweis wurde nie erbracht. In der neueren Geschichte hielt 2005 der "Piano-Mann" die Ermittler in Atem: Ein junger, verwirrt wirkender Mann in nassem Anzug ohne Etiketten wurde an der englischen Küste aufgegriffen. Auffällig an ihm war nur seine Freude am Klavierspiel. Ansonsten schwieg der Mittzwanziger monatelang, bis er im August 2005 sein Schweigen brach. Andreas G. stammt aus Bayern, ist Sohn eines Landwirts, verfügt über keine musikalische Ausbildung und hat offenbar unter psychischen Problemen gelitten.

Anders gelagert der Fall des "Kanu-Mannes", der sich 2007 in London auf einer Polizeiwache meldete: Er heiße John Darwin und kenne nur noch seine letzte Adresse. Die Polizei wusste bald mehr. Darwin galt seit 2002 als vermisst, er verschwand nach einer Kanutour in der Nordsee. Was dann passierte, war offenbar ein Versicherungsbetrug: Der hoch verschuldete Mittfünfziger tauchte nach einigen Monaten bei seiner Frau Anne wieder auf; die versteckte ihn und ließ sich Lebensversicherung und Witwenrente ausbezahlen. Unter dem Namen John Jones beantragte Darwin neue Papiere, das Paar wollte in Panama ein neues Leben beginnen. Das scheiterte an Visaproblemen. Darwin entwickelte die Idee, sich als "Mann ohne Gedächtnis" zu präsentieren - mit neuen Papieren auf seinen alten, echten Namen. Die Sache flog auf.

Auch "Waldmenschen" sorgen immer wieder für Schlagzeilen. Manche suchen nur einen Rückzugsort von der Zivilisation, andere wollen sich verstecken oder einer Strafverfolgung entgehen. Für Aufsehen sorgte ein US-Tourist, der nach der Jahrtausendwende jahrelang als Einsiedler in einem Wald nahe Koblenz lebte. Ob der Berliner Ray wirklich ein "Waldjunge" ist, fragt sich noch, auch wenn die wenigen Besitztümer dies anzudeuten scheinen: ein Zelt, ein Schlafsack und ein Rucksack. Vielleicht führen diese nun zurück in das alte Leben des Jungen, der am 5. September 2011 mitten in Berlin auftauchte.