Sonntag startet die Olympia-Mission der Hamburger Brüder. Mit Mentaltrainer und Trance-CDs bereiten sie sich auf den großen Augenblick vor.

London. Der Gang in den Warteraum. Die vielen Offiziellen, die die Akkreditierung kontrollieren, Badehose und Haube prüfen. Der Einmarsch in die Schwimmhalle. Ein Pfiff, die Kleidung abwerfen, sich dehnen, auf den Startblock steigen. Und dann der Sprung ins Wasser. Markus Deibler vom Hamburger Schwimmclub hat diese Situation schon unzählige Male erlebt. Der Ablauf wird auch in London der gleiche sein. Und doch wird ihm diesmal alles ganz anders vorkommen. "Olympische Spiele", hat Britta Steffen, die zweimalige Siegerin der Spiele von Peking 2008, einmal gesagt, "können einen erschlagen."

Deibler, 22, ist zuversichtlich, dass ihm das diesmal nicht passieren wird. Am Sonntag ist er für die deutsche Staffel über 100 Meter Freistil am Start (Vorlauf 12.56 Uhr, Finale 21.54 Uhr MESZ). Seine Form könne er gar nicht recht einschätzen: "Im Training fühle ich mich oftmals gar nicht gut, aber das muss nichts heißen." Fast schon habe er sich an diesen Zustand gewöhnt.

Diese Gelassenheit hat Deibler nicht immer gehabt. Er hat sie gelernt. Seit einem Jahr arbeitet er mit dem Hamburger Mentaltrainer Ulrich Oldehaver zusammen. Seither legt er jeden Mittag eine CD mit Entspannungsmusik ein und versetzt sich in einen Trancezustand. Meistens schlafe er dann schnell tief ein.

"Entspannt und viel zu schlafen ist sehr wichtig, um die Nervosität in den Griff zu bekommen", sagt Oldehaver. Er wird am Dienstag selbst nach London reisen, um Markus Deibler und dessen Bruder Steffen bei den weiteren Wettkämpfen zu unterstützen.

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Oldehaver, 45, dürfte dabei auf etliche Kollegen treffen. Etwa 80 Prozent der deutschen Schwimmer suchen mehr oder weniger einen Mentalcoach auf, schätzt der frühere Bundestrainer Dirk Lange. In einer Sportart, in der nur wenige Hundertstelsekunden den Ausschlag geben, falle die Entscheidung zu einem hohen Maße im Kopf: "Von leistungsmäßigen Unterschieden kann man in vielen Fällen gar nicht mehr sprechen." Den Erfolg hätten am Ende die, die es verstehen, ihre Leistungsfähigkeit in den entscheidenden rund 50 Sekunden voll auszuspielen.

Oldehaver spricht von stillen Reserven, die aus den Athleten im Wettkampf herauszukitzeln seien. Ein Patentrezept für das optimale Verhältnis von Kraft, Anspannung und Technik gebe es nicht: "Der eine braucht ein hohes Maß an Erregung, den Adrenalinausstoß, die Aggressivität. Für den anderen ist das kontraproduktiv, weil es die Bewegung unrhythmisch werden lässt." Für diese Charaktere sei dann Gelassenheit wichtiger.

Oldehaver, lange Jahre als Manager in der Immobilienbranche tätig und selbst erfolgreicher Skirennläufer, zählt auch weitere Sportler wie die Hamburger Olympiasegler Tobias Schadewaldt und Hannes Baumann zu seinen Kunden. Wie wer tickt, findet er meist recht schnell heraus. Er bittet den Athleten, sich gedanklich in den besten Wettkampf zurückzuversetzen: Welchen Zustand hat er dabei verspürt? Diesen gilt es zu stärken. Umgekehrt sind alle Einflüsse und Gefühlslagen zu vermeiden, die zu einem schlechten Wettkampfergebnis geführt haben. Um ein genaueres Bild zu bekommen, bedient sich Oldehaver der sogenannten mentalen Leistungsdiagnostik.

Bei diesem Verfahren, das von dem Osnabrücker Psychologen Julius Kuhl entwickelt wurde, wird auf drei Feldern untersucht, auf welche Weise Sportler ihre Erlebnisse mental verarbeiten: Wie schätzt sich der Sportler selbst ein? Welche bewussten, aber auch unbewussten Motive treiben ihn an? Und wie geht er mit belastenden Situationen um? Auf Grundlage der Ergebnisse werde dann ein Trainingsprogramm entwickelt, das der jeweiligen Persönlichkeit gerecht wird.

Im Fall der Deiblers kam Oldehaver zu einem verblüffenden Ergebnis: "Die Bedürfnisse der beiden sind völlig gegensätzlich." Steffen Deibler, 25, der am Donnerstag über 100 Meter Schmetterling startet, nimmt bereits seit zwei Jahren Oldehavers Dienste in Anspruch. Er sagt: "Für mich ist es wichtig, vor dem Rennen keine Zweifel zu haben. Ich will mich nicht am Gegner orientieren, sondern Freude daran haben, schnell zu schwimmen."

In Peking vor vier Jahren war er dreimal am Start: über 50 und 100 Meter Freistil und mit der Staffel. Dreimal belegte er im Vorlauf den letzten Platz. Vielleicht habe er sich als Neuling damals vom schlechten Abschneiden der gesamten Mannschaft beeindrucken lassen. "Dieses Jahr", sagt er, "kann ich damit besser umgehen. Ich bin mir bewusst, was ich erreichen will." Konkret: die Qualifikation für das Finale. Sie dürfte ihm auch einen Startplatz in der deutschen Lagenstaffel am Freitag sichern, die nach den Einzelergebnissen zusammengestellt wird. Theoretisch spricht nichts dagegen: Nur acht Kontrahenten in London sind in diesem Jahr schneller geschwommen.