Der HSV-Handballer Michael Kraus hat wieder zurück zur alter Stärke gefunden. Jetzt kämpft er um die Rückkehr in die Nationalmannschaft.

Hamburg. Und ob sich Michael Kraus das Länderspiel gestern Abend angeschaut hat! Ist ja nicht so, dass er mit dem Thema abgeschlossen hätte, ganz im Gegenteil: "Ich würde liebend gern wieder für Deutschland spielen." Das Gefühl, den Bundesadler vor der Brust zu haben, habe er schon ein bisschen vermisst in den vergangenen 20 Monaten.

Es ist nicht das erste Mal, dass Kraus der Handballnationalmannschaft nur zuschauen kann. Meistens war es sein Körper, der einem Einsatz im Weg stand. Jetzt aber geht es dem Spielmacher des HSV Hamburg gut, so gut wie lange nicht mehr. Wenn da nur nicht dieses Gefühl wäre, nicht mehr gebraucht zu werden. In den Planungen für die WM im Januar in Spanien spiele der 29-Jährige "momentan keine Rolle", ließ Bundestrainer Martin Heuberger erst am Mittwoch wieder wissen.

"Diese Aussage hat mich schon getroffen", sagt Kraus. Denn natürlich braucht ihn die Nationalmannschaft mindestens so dringend für ihr Wohlbefinden wie er sie. Kraus weiß das, Heuberger weiß das, alle wissen das. Es gibt in Deutschland keinen zweiten Mittelmann, der im Angriff auch nur annähernd Kraus' Fähigkeiten hätte: den unwiderstehlichen Antritt, den blitzschnellen Armzug, das Auge für die Lücke in der Deckung. All das zweifelt auch Heuberger nicht an, wenn er sagt: "Mimi muss sich die Frage stellen, warum er in den vergangenen zwei Jahren nicht dabei war. In dieser Zeit hat auch er Fehler gemacht."

Der folgenschwerste war ein Fahrfehler. Im Sommer 2011 setzte Kraus auf dem Weg zum Training seinen Sportwagen gegen einen Baum. Der Unfall habe ihn weit zurückgeworfen, körperlich, aber auch psychisch. Er hat ihm ein Stück jener Unbeschwertheit genommen, die ihn beim WM-Sieg 2007 noch zum "wertvollsten Spieler" gemacht hatte. Kraus sagt: "Ich habe oft gedacht, was alles hätte passieren können." Zwei Monate lang konnte er gar nicht spielen, und als es wieder ging, wirkte er endgültig wie ein Fremdkörper in der Mannschaft von Trainer Martin Schwalb. Meist durfte er nur ein paar Minuten aufs Feld, und weil es Kraus dann besonders gut machen wollte, machte er es oft besonders schlecht.

Im Sommer dann konnte er über seine mögliche Rückkehr zu Frisch Auf Göppingen lesen. Es hätte nahegelegen. Den Kontakt zu Trainer Velimir Petkovic, unter dem er einst zu einem Weltklassemann heranreifte, hat Kraus nie abreißen lassen. Er wäre wieder im Kreis seiner Familie und der meisten seiner Freunde. Und der Verein braucht 2013 einen Nachfolger für Michael Haaß, der nach Magdeburg wechselt.

Aber Kraus will nie ernsthaft erwogen haben, seinen bis 2014 laufenden Vertrag nicht zu erfüllen: "Ich möchte dem HSV das Vertrauen, das er in mich setzt, gern zurückzahlen." Die ersten Raten laufen ja gerade erst ein. Im Oktober machte Kraus einige brillante Spiele. Gegen Kiel ließ ihn Schwalb am vergangenen Sonnabend sogar im Angriff anfangen, was nicht nur daran lag, dass im Hamburger Rückraum so viele Verletzte zu beklagen sind. Kraus gelangen starke Anspiele und fünf Tore, darunter das spektakulärste, als er im Klammergriff von Christian Zeitz einen Tempogegenstoß vollendete. Eine solche Aktion wäre vor einigen Wochen noch undenkbar gewesen.

Vor einigen Wochen kannte er allerdings auch Wilhelm Schröter noch nicht. Im September hat sich Kraus den Footballer der HSV Blue Devils als Privattrainer genommen. Seither arbeitet er mit ihm bis zu dreimal pro Woche zusätzlich an seinen athletischen Grundlagen: Schnelligkeit, Sprungkraft, Rumpfmuskulatur. Im Fitnessstudio Elbgym, das Schröter betreibt, gibt es nichts, was Kraus von der Arbeit ablenken könnte: keine Sauna, keine Wellness, noch nicht einmal andere Menschen: "Oft sind wir ganz allein, weil sich mein Trainer auch nach den Öffnungszeiten noch um mich kümmert."

Ideale Umstände also für einen, dem immer noch der Ruf vorauseilt, nicht mit dem nötigen Ernst an seinen Beruf heranzugehen. Schröter hat auch Kraus' Ernährung umgestellt. Vor allem der Magen-Darm-Trakt hatte sich ja als anfällig erwiesen, in unschöner Regelmäßigkeit warfen Infekte den Schwaben aus der Bahn.

Kraus scheint diesmal wirklich gewillt zu sein, das Versprechen einzulösen, das sein Talent der Handballwelt einst gegeben hat. Dass er seinen Worten endlich Taten folgen lassen müsse, hat zuletzt Heiner Brand von ihm gefordert. Am Mittwoch hat Kraus seinen früheren Bundestrainer angerufen, "darüber hat er sich sehr gefreut". 2008 hatte Brand im Groll Kraus vorübergehend aus der Nationalmannschaft verbannt und ihm eine mangelhafte Einstellung vorgeworfen. Nun könnte er sich bei seinem Nachfolger für den HSVer einsetzen. Kraus selbst wird kein weiteres Gespräch suchen: "Ich kann die Antwort nur auf dem Platz geben."