Neuzugang Michael Kraus lenkt auf Anhieb das Spiel der HSV-Handballer. In der Abwehr bleibt Kapitän Guillaume Gille unverzichtbar.

Hamburg. Das freie Wochenende hat Michael Kraus genutzt, um etwas Wichtiges nachzuholen: Er hat den Eltern zu Hause in Göppingen seine neue Freundin vorgestellt. Natürlich hat er sich auch darüber informiert, wie es den alten Kollegen vom TBV Lemgo am Sonntag im Spiel in Kiel ergangen ist. "Mit dem einen oder anderen Spieler" habe er danach telefoniert und die 26:35-Niederlage analysiert. Aber er müsste lügen, würde er behaupten, mitgefiebert zu haben.

Kraus, 26, spielt seit dieser Saison für die HSV-Handballer. Wüsste man das nicht, man könnte glatt glauben, dass seine Zeit in Lemgo eine Ewigkeit zurückliegt, so selbstverständlich wie er das Hamburger Angriffsspiel bereits führt. Beim Sieg am Freitag in Wetzlar war er mit sechs Toren der erfolgreichste Schütze seiner Mannschaft und durfte einen Siebenmeter verwandeln. Beides schienen bisher Privilegien von Rechtsaußen Hans Lindberg zu sein.

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Kurzum: Kraus ist vor dem Spiel heute Abend bei der TSV Hannover-Burgdorf (20.15 Uhr/Sport1) angekommen in seinem neuen Leben, das eine Nummer größer ist als sein altes. Denn es ist ja nicht nur die Stadt, die eine andere Dimension hat. "Auch die Qualität in der Mannschaft ist noch einmal eine Nummer größer als in Lemgo", hat Kraus festgestellt. Man könnte auch sagen: Er hat beim HSV ein Umfeld gefunden, das seinem Talent ebenbürtig ist. Das Talent haben ihm ja auch seine Kritiker nie abgesprochen, es hat ihn und Deutschland 2007 zum Weltmeister gemacht. Sie haben ihm nur vorgeworfen, es zu verschleudern, weil ihm das Geschehen neben der Platte bisweilen wichtiger sei.

Wer einen schlecht gelaunten Martin Schwalb erleben will, konfrontiert ihn mit solchen Aussagen. "Lasst mich damit in Ruhe", mault der Trainer dann: "Mimi ist ein Vollblutsportler. Von allen Neuzugängen, die ich in 13 Jahren hatte, hat sich keiner so unauffällig integriert." Der Eindruck der ersten fünf Pflichtspiele bestätigt ihn. Zwar erzählt man sich beim HSV, dass die Verpflichtung vor allem die Idee von Präsident Andreas Rudolph war, mit dem Kraus seit Längerem freundschaftlich verbunden ist. Aber spätestens dass Krzysztof Lijewski an der Schulter operiert werden musste, hat den Neuling fast unverzichtbar gemacht. Und Schwalb ist "froh, dass das Gerede ein Ende hat, wir bräuchten ihn nicht".

Kraus hat nicht den Fehler gemacht, sich auf sein Talent, seinen unnachahmlichen Antritt zu verlassen. Er hat im Training Sonderschichten geschoben und zu Hause die Spielzüge gebüffelt: "Ich habe sie aufgezeichnet und versucht zu visualisieren, weil ich sie so besser lernen kann." Jetzt gibt es nichts, was ihn noch überraschen könnte, jedenfalls nicht im Angriff.

In der Abwehr vertraut Schwalb weiterhin auf Guillaume Gille, seinen Kapitän. Er tut gut daran, wie man in Wetzlar sehen konnte, als der Gegner phasenweise zu verzweifeln schien. "Sensationell" habe der Franzose die Drei-zwei-eins-Deckung sortiert, die Schwalb in der Vorbereitung einstudieren ließ. Es sei, erklärt Gille, eine auf dem Balkan verbreitete Variante, bei der sich möglichst viele Spieler auf der Ballseite aufhalten und so den Ball führenden Spieler in Bedrängnis bringen.

Es gibt also eigentlich keinen Anlass, Kraus auch vor dem eigenen Tor einzusetzen, was er selbst einsieht: "Wir haben ja sehr gute Abwehrspieler." Trotzdem würde er gern seinen Ruf als reiner Angriffsspezialist loswerden, der ihm seit seiner Zeit in Lemgo vorauseilt. Zu Unrecht, wie Schwalb meint: "Mimi ist ein kompletter Handballer. Ich weiß, dass er auf der Halbposition decken kann."

Die Gelegenheit, es zu beweisen, werde schon noch kommen in dieser Saison. Und natürlich werde Gille, 34, in seiner neunten Saison beim HSV weiterhin als Spielmacher geführt, auch wenn er derzeit vor allem der Abwehrchef sei. Die derzeitige Arbeitsteilung komme auch dem Franzosen zugute, wie der sportliche Leiter Christian Fitzek bemerkt hat: "Die Belastung für Gino war in den vergangenen Jahren extrem hoch. Man merkt, dass ihm die Erholungspausen gut tun."

Gille selbst will sich nicht aufdrängen: "Der Fokus liegt zu hundert Prozent auf der Aufgabe, die ich bekomme." Die Frage bleibt, wie lange sich der HSV den Luxus dreier Spielmacher leisten will. In Kraus und dem Kroaten Domagoj Duvnjak, 22, ist das Duo für die Zukunft auf der Mitte offenbar gefunden. Guillaume Gilles Vertrag läuft wie der seines Bruders Bertrand, 32, am Saisonende aus. Wie es danach weitergeht, wüsste er auch gern: "Ich will so früh wie möglich Klarheit haben."

Wo seine Priorität liegt, hat Gille nie verheimlicht: Er würde gern bleiben, und zwar als Spieler. An Alternativen verschwende er keine Gedanken - noch nicht: "Bis zu einer akzeptablen Frist rede ich nur mit dem HSV."