Passivität, Formkrisen, Verletzungen - St. Paulis Problemkette wird nach dem Desaster von Nürnberg immer länger. Und jetzt kommt Stuttgart.

Nürnberg. Das Lob wirkte beinahe ein wenig hochnäsig, war aber durchaus ehrlich gemeint: "Stani hat das in der Analyse perfekt gemacht", sagte Dieter Hecking gönnerhaft und wies mit der Hand hinüber zu seinem befreundeten Trainerkollegen, der zwei Stühle neben ihm mit finsterer Miene auf dem Podium der Medienkonferenz saß. Ein Attest, das Holger Stanislawski das bescheinigte, was seiner Mannschaft während des gesamten Spiels zuvor nicht gelungen war: drei fehlerfreie Minuten. Am 25. Spieltag erlebte der FC St. Pauli sein Fußball-Waterloo und konnte am Ende sogar dankbar sein, dass der 1. FC Nürnberg lediglich in der ersten und letzten Viertelstunde sein facettenreiches Potenzial voll abrief. Den Franken genügten 30 starke Minuten, um zu einem hochverdienten 5:0-Sieg zu gelangen.

Die aktuelle Tabelle

Man musste sich schon die Augen reiben und ganz genau hinschauen, um die Herren Ebbers, Lehmann, Thorandt, Gunesch und Co. auf dem Rasen des Easycredit-Stadions zu identifizieren. An ihrem Spiel waren sie jedenfalls nicht wiederzuerkennen. Jeder der Hamburger Profis wirkte wie ein verblasstes Abziehbild seiner selbst, eine Homogenität der erschreckenden Art. St. Pauli versagte im Kollektiv, wie Stanislawski, Hecking und alle anderen im mit 45 109 Zuschauern gut besetzten Oval früh feststellen konnten. "Für uns war das Spiel schon nach wenigen Minuten vorbei. Wir haben gleich unseren stärksten Innenverteidiger verloren, dann bei einer Standardsituation geschlafen und anschließend keine Ruhe mehr reinbekommen", so der Hamburger Coach nach der höchsten Pflichtspielpleite seit achteinhalb Jahren, seit einem 0:6 beim VfB Lübeck. Als Christian Eigler in der 17. Minute mit dem zweiten seiner insgesamt vier Treffer das 3:0 erzielte, drohte Stanislawski, das rechte Bein über das linke geschlagen, von seinem roten Schalensitz an der Seitenlinie zu rutschen. Nahezu regungslos hatte der 41-Jährige die desolate Darbietung seiner Elf bis dahin verfolgt, versank adäquat zur Mannschaft auf dem Feld von Minute zu Minute stetig ein paar Zentimeter tiefer.

Fehlende Abstimmung und mangelhafte Kommunikation, gepaart mit schlampigem Zweikampfverhalten und regelmäßigen Stockfehlern, sorgten für mitunter chaotische Szenen und ließen den eigenen Strafraum zum Spielmittelpunkt werden. "Wir fühlen uns wie ein Boxer, der gerade voll in die Fresse bekommen hat und auf dem Boden liegt", umschrieb Innenverteidiger Ralph Gunesch das allgemeine Befinden. St. Pauli als ein Faustkämpfer, der ohne Deckung in den Kampf gegangen war. Nahezu jeder Nürnberger Angriff hatte den Charakter eines Wirkungstreffers, fünfmal wurde St. Pauli angezählt. Ein einseitiger Kampf, da auf der Gegenseite kein einziges Mal auch nur ein Schlag angedeutet wurde. Wie schon gegen Hannover war Braun-Weiß torchancenlos. Ein Armutszeugnis.

Hinten desolat und vorne destruktiv, weil sich Ungenauigkeiten in die Laufwege eingeschlichen haben, weil das Passspiel mittlerweile selbst beim Quergeschiebe auf der Mitteldistanz von Fehlern nur so durchzogen ist. Stanislawski hat viele Ansatzpunkte in dieser langen Trainingswoche bis zum Heimspiel am Sonntag gegen den VfB Stuttgart (17.30 Uhr), wusste aber schon kurz nach der dritten Niederlage in Folge, wo der Hebel anzusetzen ist. "Entscheidend ist, wie leicht wir die Gegentore weggegeben haben Da müssen wir uns nicht um unser Spiel nach vorne kümmern."

Dennoch: Es ist das gesamte Spiel, das Auftreten und die Konsequenz, die dem FC St. Pauli abhanden gekommen sind. Und das bereits seit Wochen, genau gesagt: seit dem Derby. Der Jubel über den historischen 1:0-Triumph gegen den HSV überlagerte eine nach dem glänzenden Rückrundenstart spielerisch erstmals dürftige Leistung. Das 0:2 in Dortmund war mit des Gegners Extraklasse erklärbar gewesen, und beim 0:1 gegen Hannover hielten die katastrophalen Platzverhältnisse als Argument für die schwachen Leistungen her. Das 0:5 nun öffnete allen die Augen. "Die Klasse einer Mannschaft zeigt sich im Umgang mit Rückschlägen. Jetzt müssen wir zeigen, was wir können", sagt Sportchef Helmut Schulte, der die letzten drei Gegner als Mannschaften der Stunde kategorisierte und die Mannschaft nun in der Pflicht sieht: "Wir müssen die Punkte gegen Mannschaften holen, die in direkter Konkurrenz zu uns stehen." Die kommenden Gegner heißen Stuttgart und Eintracht Frankfurt.

Es sind wichtige, beim Blick auf den Spielplan und das finale Restprogramm vielleicht sogar entscheidende Partien. "Es ist der Charakter dieser Mannschaft, dass wir auch wieder aufstehen und weiter kämpfen", sagt Gunesch. Nürnberg war ein Niederschlag, aber noch längst kein Knock-out für die Hamburger. Und an den glaubt auch Hecking nicht: "Stani, ihr werdet wieder aufstehen, das habt ihr in der Vergangenheit schon so oft gezeigt."