St. Pauli dominierte Gladbach beim 3:1 auch dank einer fragwürdigen Roten Karte gegen de Camargo und einem theatralischen Lehmann.

Hamburg. Der Suchende stellte sich auf die Zehenspitzen und ließ seinen Blick durch die Katakomben des Millerntor-Stadions schweifen, dann hatte er die Zielperson endlich erspäht. Michael Frontzeck ging schnellen Schrittes auf Matthias Lehmann zu und sprach ihn an. "Wir kennen uns aus gemeinsamen Zeiten bei Alemannia Aachen", erklärte der Trainer von Borussia Mönchengladbach, "ich habe ihn gefragt, ob er eine Platzwunde habe." Ein Nachfragen, dem keine Sorge um die Gesundheit seines Ex-Spielers zugrunde lag - Frontzeck beschäftigen derzeit gravierendere Probleme . Nach dem 1:3 beim FC St. Pauli, der mittlerweile 14. Saisonniederlage, war des Trainers Frage allein die Ausgeburt seiner Verärgerung über Lehmanns Verhalten in der 21. Spielminute, die aus Sicht der Borussen spielentscheidenden und für Frontzeck damit existenziellen Charakter gehabt hatte.

Nach einem rüden Foulspiel von Lehmann gegen de Camargo entschied Schiedsrichter Wolfgang Stark auf Freistoß und der Gefoulte, sich dem Verursacher noch einmal persönlich zu widmen. Eilig sprintete der Angreifer auf Lehmann zu, stoppte Angesicht in Angesicht erst wenige Millimeter vor seinem Gegenspieler. Beide Beteiligten senkten die Häupter, und als sich Stirn und Stirn berührten, sank Lehmann zu Boden. "Die Szene ist völlig unstrittig", sagte Holger Stanislawski nach mehrmaliger Betrachtung am Tag danach: "Matze foult ihn hart, und dann verliert de Camargo die Nerven."

Eine korrekte Beobachtung von St. Paulis Trainer, der aber verschweigt, dass die entscheidende Berührung nicht vom mit Rot vom Platz gestellten Borussen ausging und Lehmann sich zwei Wochen vor der Oscarverleihung in Los Angeles theatralisch selbst des Gleichgewichtssinns beraubte. Eine Dummheit de Camargos, eine Unsportlichkeit Lehmanns, der die Szene anschließend mit jener Ehrlichkeit und Schnörkellosigkeit kommentierte, die ihn ansonsten Woche für Woche auf dem Fußballplatz auszeichnet: "De Camargo kam mir entgegen und berührt mich an der Stirn. Ich habe das Geschenk angenommen. Er ist selbst schuld, wenn er so was macht", so der 27-jährige Dampfmacher und Torschütze zum 3:1-Endstand, "beiden Gelb zu zeigen wäre gerecht gewesen. Und ich habe noch niemanden gesehen, der nach einer solchen Aktion gleich wieder aufgestanden und zum Schiedsrichter gegangen ist, um ihn zu fragen, ob er das gesehen hat. Das gehört dazu."

Etwas von Normalität hatte auch die vorausgegangene Führung des Rotsünders. Die beiden vergangenen Auswärtsspiele hatten die Niederrheiner nach Toren de Camargos mit 1:0 für sich entschieden. Ein Zwischenergebnis, das aber mehr St. Pauli mit einem misslungenen Rückpass von Moritz Volz als die Borussia zu verantworten hatte. "Wir waren auch schon gegen elf Gladbacher dominant und wären es auch zu zehnt gegen elf gewesen", wollte Stanislawski dem Platzverweis keine übergroße Bedeutung beimessen. Eine hypothetische Behauptung, da die Partie mit zunehmender Dauer und abnehmender Spielerzahl immer einseitiger wurde.

Kruse glich aus, Kapitän Gerald Asamoah lenkte das Spiel für die Hamburger kurz nach der Pause in die Erfolgsspur. St. Pauli spielte sich nun erneut in einen Rausch. Zweikampfhärte und taktische Disziplin, vor allem aber Leichtfüßigkeit, Spielwitz und Laufbereitschaft bewirkten gegen einen sich aufgebenden Gegner Chancen im Fünf-Minuten-Takt. "Wir hätten Köln und Gladbach eigentlich mit sechs, sieben Toren nach Hause schicken müssen", so Stanislawski, dem für weitere Kritikpunkte aber die Argumente fehlten.

Mit zwei verdienten Siegen gegen direkte Konkurrenten hat sich St. Pauli etwas Luft im Abstiegskampf verschafft. Die Mannschaft hat neues Selbstvertrauen gewonnen und präsentiert sich bestens präpariert für die gleichermaßen schweren wie reizvollen Aufgaben beim HSV und in Dortmund.