Der frühere St.-Pauli-Profi spricht über seine Depression - und erfährt, dass sich im Fußball seit dem Tod von Robert Enke nicht viel verändert hat.

Hamburg. Seine Finger spielen mit einem breiten Silberring. Drehen ihn hin und her, immer wieder. Es ist das einzige Anzeichen von Nervosität. Seine Stimme ist ruhig und fest, sein Blick offen. Der junge Mann weicht nicht aus. Manchmal lächelt er zwischendurch. Als ob er die Unsicherheit spürt. Nicht die eigene, sondern die seines Gegenübers. Etwa wenn der 20. Oktober 2009 zur Sprache kommt. Der Tag, an dem er versuchte, sich das Leben zu nehmen.

Beinahe ein Jahr später sitzt Andreas Biermann, 30, in der Lobby des Hotels Le Royal Méridien. Der ehemalige Fußball-Profi des FC St. Pauli soll als Talkshow-Gast bei Reinhold Beckmann auftreten und erzählen. Wie es sich lebe mit einer unsichtbaren, kaum greifbaren Krankheit - der Depression. Andreas Biermann wirkt gefasst. Es gehe ihm gut so weit, erklärt er. Die Tabletten würden ihm helfen, die psychologische Betreuung ebenso. Verarbeitet, sagt er, habe er das Geschehene noch nicht. "Das braucht Zeit."

Zu lange gärte es in dem Abwehrspieler. Zu lange hat er sich nicht eingestanden, dass er Hilfe braucht. Zweimal versuchte Andreas Biermann, sich umzubringen. 2004 nahm er Schlaftabletten. Der Suizidversuch scheitert, ein Bekannter findet ihn rechtzeitig. Burn-out, diagnostizieren die Ärzte später. Eine missglückte Knieoperation und die Angst, deshalb die Profi-Karriere aufgeben zu müssen, seien zu viel für den ehrgeizigen Berliner gewesen.

Andreas Biermann macht weiter, spielt in der Saison 2006/07 für Union Berlin. Meist mit Schmerztabletten. Er merkt, dass er krank ist. Nicht nur körperlich, auch seelisch. Er schläft kaum noch, Gefühle kann er nicht empfinden.

In dem Jahr, als er sich erstmals umbringen will, ändert sich das kurzfristig. Er lernt Juliane, seine spätere Frau, kennen. Er fühlt sich gut. "Seltener schlecht", wie er es nennt. Und doch kommen sie zurück, die Grübelphasen, in denen er sich schlaflos im Bett wälzt. Eine Therapie kommt nicht infrage.

"Ich hatte Angst, dass ich den Fußball aufgeben muss." Es ist das Einzige, bei dem er Glück empfinden kann: auf dem Platz, wenn er spielt. Seit seiner Kindheit ist das sein Halt. Hier wird er, der blasse Junge mit den roten Haaren, nicht gehänselt. Hier ist Andreas Biermann der Beste. Doch nagt es weiter an ihm, das Gefühl, minderwertig zu sein.

Seine Karriere ist geprägt von Verletzungen, doch macht er seinen Weg. 2008 wechselt er in die Zweite Liga zum FC St. Pauli. Im gleichen Jahr wird seine Tochter Talea geboren, sein erstes Kind. Einer der emotionalsten Momente im Leben eines Menschen. Nicht für Andreas Biermann. "Ich habe das vermutlich nicht so wahrgenommen, wie es andere können." Seine Eltern und seine Frau spüren, dass er leidet, doch sie finden keinen Zugang. Er zieht sich zurück, pokert viel. Bei St. Pauli läuft es nicht wie gewünscht, Krankheiten werfen ihn erneut zurück. Jetzt findet er beim Kartenspiel seine Anerkennung. Für eine kurze Zeit.

Im Oktober vergangenen Jahres beschließt Andreas Biermann, sich mit Autoabgasen das Leben zu nehmen. Er ist mittlerweile Vater von zwei Kindern. Er denkt an seine kleine Familie, als er einen Abschiedsbrief schreibt, weiß, was er ihnen antut. Trotzdem kann er nicht anders. Auch dieser Selbstmordversuch misslingt. Andreas Biermann beginnt eine Therapie gegen Spielsucht. Bis zum Freitod von Robert Enke. "Ich habe den Auftritt von Theresa Enke im Fernsehen verfolgt. Die Geschichte, die sie erzählte, hätte meine sein können. Das öffnete mir die Augen."

Am nächsten Tag lässt er sich für acht Wochen in die Klinik-Nord in Ochsenzoll einweisen. Die Diagnose ist eindeutig: Depression. Andreas Biermann macht daraufhin seine Krankheit öffentlich. Er, der Introvertierte, der Scheue, steht plötzlich im Mittelpunkt des Medieninteresses. Enkes Selbstmord wirkt noch nach, die Diskussionen um Leistungsdruck im Fußball reißen nicht ab. "Ich wollte Betroffenen Mut machen und das Bewusstsein dafür schärfen", erklärt er. Der Verein steht zu ihm, und DFB-Präsident Theo Zwanziger geißelt öffentlich: "Der Fußball muss menschlicher werden."

Viel, sagt Andreas Biermann heute, ist davon nicht geblieben. Der Ball rollt weiter, in Hannover und anderen deutschen Stadien. Auch bei St. Pauli, ohne ihn. Im Sommer hat er den Verein verlassen. Es war ein stiller Abschied, nicht nur im Guten. Er wäre gern geblieben, hätte in der zweiten Mannschaft gespielt und als Trainer bei der Jugend einzelne Aufgaben übernommen. "Aber das Angebot des Vereins hat mich sehr enttäuscht." So viel sei geredet worden über die großen Veränderungen, die der Fußball machen müsse. Das Resultat: "Man hat mich fünf Monate hingehalten. Ob das der richtige Umgang mit einem depressiven Menschen ist, wage ich zu bezweifeln."

Andreas Biermann zieht zurück in seine Heimat, nach Falkensee bei Berlin. Sein Berater spricht mit mehreren Vereinen. Überall die gleiche Reaktion: Den Fußballer Biermann wollte man haben, die Krankheit nicht. "Es hieß, ich würde die Verantwortung nicht verkraften", sagt er. Letztlich habe ihn das Bekenntnis zur Depression die Karriere gekostet. Es klingt ehrlich, wie er das sagt. Verletzt.

Momentan spielt er keinen Fußball. Wegen der Beschwerden im rechten Knie ist er krankgeschrieben. Der Anker in seinem Leben existiert nicht mehr. Andreas Biermann versucht dennoch, nach vorne zu blicken. Er will Psychologie studieren, weil er überzeugt ist, Betroffene besser zu verstehen. Weil er selbst betroffen ist. Dazu schreibt er gemeinsam mit dem Journalisten Rainer Schäfer an einem Buch. "Rote Karte Depression" soll es heißen und im kommenden Jahr erscheinen. Eine Form der Therapie sei das. Außerdem wolle er ein Zeichen setzen.

"Ich bin kein Held", sagt er. "Es ist nichts Tolles, was ich gemacht habe. Aber ich hoffe, dass ich anderen helfen kann." Andreas Biermann hat sich zu seiner Krankheit bekannt. Und er kämpft. Vor allem für seine Familie. Er ahnt, wie schlimm es sein muss, wenn der Vater freiwillig aus dem Leben geht. Doch er kennt auch die andere Seite. Wie es ist, wenn man gehen möchte.