Nach Enkes Suizid geht Andreas Biermann in die Offensive: Nach einem Selbstmordversuch begab sich der 29-Jährige in Behandlung.

Hamburg. Seine Stärken liegen in der Defensive. Auf dem Fußballplatz, aber auch darüber hinaus. Andreas Biermann war und ist kein Lautsprecher. Keiner, der seine Emotionen jedermann offenbart. Der 29 Jahre alte Linksverteidiger als Ruhepol innerhalb des Spaßkollektivs FC St. Pauli, introvertiert und unauffällig. Biermann behielt stets seine Bierruhe. Das tägliche "Hallo" auf dem Trainingsgelände an der Kollaustraße kam ihm freundlich, aber eben leiser als anderen über die Lippen. Die große Bühne suchte er lediglich sportlich auf dem Fußballplatz, fand sie nun allerdings abseits des grünen Rasens. "Ich, Andreas Biermann, 29 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Kindern, bin Profifußballspieler beim FC St. Pauli und leide seit mehreren Jahren an Depressionen", lautet der erste Satz einer von ihm über den Verein veröffentlichten Erklärung.

Zehn Tage nach dem tragischen Suizid von Robert Enke ist der Abwehrspieler in die Offensive gegangen. Der Torwart der deutschen Nationalmannschaft hatte das gleiche Krankheitsbild gehabt und aus Angst vor der Öffentlichkeit den Freitod gewählt. Eine Ausweglosigkeit, die auch Biermann überkam. Am 20. Oktober unternahm er einen Selbstmordversuch, der nur dank aufmerksamer Beobachter im letzten Moment vereitelt wurde. Seitdem wissen Spieler und Trainer von der Erkrankung ihres Mannschaftskollegen.

Und man kann wohl nur ansatzweise erahnen, wie sehr ihn drei Wochen darauf das Schicksal Enkes aufgewühlt haben muss. Dessen Tod, die folgende Pressekonferenz mit der ohnmächtigen Witwe Teresa Enke sowie der bundesweiten Anteilnahme und medialen Aufarbeitung dürften in ihm den Gedanken reifen lassen haben, mit seinem Geheimnis an die nun sensibilisierte Öffentlichkeit zu gehen. "Dank der Unterstützung meiner Familie, des FC St. Pauli - allen voran meines Trainers Holger Stanislawski -, meines Beraters Henry Hennig und meiner Ehefrau, begab ich mich am 13. November in eine stationäre Behandlung" erklärt er.

Immer wieder zerstörten Verletzungen seinen Plan von der großen Karriere, die ihm als talentierter Jugendspieler bei Hertha BSC prophezeit worden war. "Er war bei uns in allen Jugendabteilungen gesetzt", erinnert sich der damalige Nachwuchstrainer Falko Götz im Gespräch mit dem Abendblatt, "ich habe ihn schon als A-Jugendlichen bei mir in der U 23 spielen lassen. Er hat Hoffnung auf mehr gemacht, doch dann kristallisierte sich heraus, wie verletzungsanfällig er ist." Nach vier Schulteroperationen versuchte Biermann im Amateurbereich ein Comeback, wechselte 2000 als 19-Jähriger zu Göttingen 05 und gelangte über den Chemnitzer FC zum MSV Neuruppin. Nach einer bakteriellen Infektion im Zuge einer Meniskus-OP schien seine Laufbahn endgültig beendet. Der Einser-Abiturient wurde Co-Trainer und bereitete sich auf ein Medizinstudium vor, wagte dann aber doch einen letzten Versuch. 2006 gelang dem Berliner bei Union das Comeback. "Er ist der kompletteste Spieler, dem ich je begegnet bin", lobte Trainer Christian Schreier. Nach einer Saison lehnte Biermann eine Vertragsverlängerung zugunsten von St. Pauli ab. Die Hamburger nahmen den Rotschopf aber wegen finanzieller Engpässe erst im Winter 2007/08 unter Vertrag, Biermann war kurzzeitig arbeitslos geworden. Seitdem absolvierte er lediglich zehn Zweitligaspiele.

"Zeitweilig habe ich versucht, im Pokerspiel jenes Glück zu finden, das mir im Profisport aufgrund meines Verletzungspechs immer wieder versagt geblieben ist", beschreibt Biermann weitere Begleiterscheinungen der Krankheit, "dieses Ventil hätte mich fast in eine Spielabhängigkeit getrieben, die meine eigentliche Erkrankung zusätzlich negativ beeinflusst hätte. Dies ist zum Glück nicht geschehen."

Andreas Biermann ist der erste Fußballprofi, der sich als Aktiver zu seiner Krankheit bekennt. "Meine Familie und ich möchten dies der Öffentlichkeit mitteilen, um anderen Betroffenen den Mut zu geben, sich ebenfalls zu öffnen bzw. helfen zu lassen. Zudem möchten wir uns selbst ein Lügen- und Versteckspiel nach meiner Genesung ersparen. Wir möchten offen damit umgehen, um dazu beizutragen, dass diese Erkrankung kein Tabuthema mehr ist", nennt Biermann die Motive.

Mit dem gleichermaßen richtigen wie äußerst couragierten Schritt hat Andreas Biermann den Anfang gemacht, um seine Krankheit zu bekämpfen. Ein Anfang aber auch für andere. Die Zeit ist reif, sich zu bekennen und in Behandlung zu begeben, damit der Tod Enkes ein Einzelfall bleibt. Biermann hat Offensivstärke bewiesen.

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