Neben Spektakel zeigt das Stanislawski-Team nun auch Stabilität in der Defensive. Höchster Auswärtssieg seit 22 Jahren sorgt für Euphorie.

Aachen. Selbst der 5:0-Paukenschlag bei Alemannia Aachen, verbunden mit der ersten Zweitliga-Tabellenführung seit neun Jahren, konnte nichts daran ändern. Die nach Auswärtsspielen fast schon obligatorische Schlaflosigkeit hatte Holger Stanislawski erneut befallen. Anders als in der vergangenen Saison war es diesmal allerdings nicht die schwache Leistung seiner Mannschaft, die den Trainer des FC St. Pauli in der Nacht von Montag auf Dienstag kein Auge zutun ließ. Den 39-Jährigen plagte ein entzündeter Weisheitszahn. Ausreichend Zeit also, um das am Abend zuvor Erlebte noch einmal zu ordnen.

"Wir haben ein sehr, sehr gutes Spiel abgeliefert. Vielleicht das beste, seit ich hier Trainer bin", sagt Stanislawski, "allerdings warne ich vor Euphorie. Wer die beiden Chancen der Aachener in der Anfangsviertelstunde gesehen hat, wird wissen, weshalb." Zweimal musste Torhüter Mathias Hain sein ganzes Können aufbieten - oder besser: durfte. Denn im Anschluss degradierten ihn seine Vorderleute zum Statisten, zum begeisterten Zuschauer einer Fußball-Demonstration, die es beim FC St. Pauli in dieser Konsequenz noch nicht gegeben hat. Die Alemannia wurde in ihre Einzelteile zerlegt. Mit jedem Kurzpass gerieten die Risse im gelb-schwarzen Gebilde tiefer, Tempo- und Positionswechsel stifteten gleichermaßen Verwirrung. Der selbsternannte Aufstiegskandidat wurde nicht nur überrascht, sondern überfordert.

St. Pauli präsentierte sich als optimal abgestimmtes und eingestelltes Kollektiv mit herausragenden Einzelkönnern. "Ich habe so eine Partie in meiner gesamten Karriere noch nicht erlebt. Besser kannst du es eigentlich nicht spielen", zeigte sich sogar Carsten Rothenbach, gemeinhin kein Freund von Superlativen und Übertreibungen, begeistert. "Das war in der ersten Halbzeit echter One-touch-football. Es hat richtig Spaß gemacht", freute sich Fabian Boll. Die Leistung der Mannschaft war nah an der Perfektion, der Erfolg von historischem Wert. Der letzte Auswärtssieg im Profibereich mit fünf Toren Differenz liegt 22 Jahre zurück (14. November 1987, 6:1 bei Rot-Weiß Oberhausen).

Spektakel gab es am Millerntor bereits in der jüngeren Vergangenheit einige. Stanislawskis Philosophie vom Offensivfußball - "Ich gewinne lieber 5:4 als 1:0" - wurde von der Mannschaft in den vergangenen Monaten immer öfter umgesetzt, das letzte 0:0 liegt 47 Spiele zurück. Es hagelte Tore, vorne wie hinten. St. Pauli als Erlebnis, als Elf mit dem höchsten Entertainmentfaktor der Liga. 111 Treffer (52:59) fielen in den 34 Partien 2008/09. Nun, nach zwei Spieltagen, sind es schon wieder acht - allerdings in anderem Verhältnis (7:1).

Grund dafür ist die Balance aus Spektakel und Stabilität, die nach langer Suche gefunden scheint. Stanislawski ist es gelungen, die spieltechnische Entwicklung der letzten Jahre - auch durch die Neuzugänge Charles Takyi, Matthias Lehmann, Max Kruse und Deniz Naki - erneut auf eine höhere Qualitätsstufe zu heben, die Mannschaft dabei aber parallel in ein taktisches Korsett zu pressen, das auch im Spiel ohne Ball sitzt. Stanislawski: "Wir haben in der Vorbereitung viel im taktischen Bereich gearbeitet, vor allem defensiv. Die Spieler haben gelernt."

Bereits zum Auftakt gegen Ahlen (2:1) war der Prozess sichtbar geworden. Der Gegner blieb über 90 Minuten ohne echte Torchance, kam lediglich nach einem Patzer von Hain zu einem Treffer. Und auch gegen Aachen ließ man dank des verbesserten Defensivverhaltens der gesamten Mannschaft kaum Tormöglichkeiten zu. Souverän, spielstark und spektakulär gelang der Sieg am Tivoli, der beim Trainer für eine Modifizierung seiner Vorgabe sorgt: "Mir ist ein 5:4 weiterhin lieber als ein 1:0. Aber am liebsten gewinne ich 5:0."