Der HSV gewinnt trotz eines 0:1-Rückstands noch mit 3:1 gegen Hannover 96 und rückt auf den elften Tabellenrang der Fußball-Bundesliga vor.

Kassiert eine Mannschaft ein vermeidbares Gegentor, gibt es in der Regel eine begrenzte Anzahl von Tatverdächtigen für die Schuldfrage: in erster Linie den Torwart, dicht gefolgt von den Abwehrspielern oder auch Mittelfeldspielern. Als aber nach dem hart erarbeiteten und erkämpften 3:1-Erfolg des HSV gegen Hannover die Sprache auf das 0:1 durch Szabolcs Huszti (28.) kam, erklärte Bert van Marwijk milde lächelnd und etwas überraschend: „Die Schuld dafür nehme ich auf mich.“ Doch dazu später mehr.

Im Vordergrund standen nach dem Abpfiff des Nordderbys naturgemäß die positiven Aspekte. Nach zwei Niederlagen in Folge stoppten die Hamburger den Abwärtstrend und feierten den ersten Heimsieg unter dem ehemaligen niederländischen Nationaltrainer, während Hannover nach nun sechs Auswärtsniederlagen und 3:14 Toren in dieser Saison mitten in einer ausgewachsenen Krise steckt und seit 2004 auf einen Erfolg beim HSV wartet.

Dass am Sonntagnachmittag Fußball in schönster Reinkultur geboten wurde, wollte allerdings niemand behaupten. „Eine mittelmäßige Partie, gegen Gladbach und Stuttgart (0:2, 3:3, die Red.) haben wir viel besser gespielt“, urteilte Sportchef Oliver Kreuzer. Es war allerdings auch wenig verwunderlich, dass vor allem in der ersten Halbzeit ein mehr als bescheidenes spielerisches Niveau geboten wurde, schließlich galt es, im Mittelfeld Rafael van der Vaart (verletzt) und Tolgay Arslan (gesperrt) zu ersetzen. Tomas Rincon, Ivo Ilicevic und Johan Djourou war die fehlende Matchpraxis anfangs deutlich anzumerken, Hakan Calhanoglu benötigte als Vertreter van der Vaarts im Zentrum Eingewöhnungszeit. So war über weite Phasen eine zu hohe Fehlerquote die prägende Komponente des HSV-Spiels.

Was man den Hamburgern vorwerfen musste: Sie nutzten die bis unters Stadiondach spürbare Verunsicherung des Gegners nicht und ließen sich im Gegenteil vom Pressing der Elf von Mirko Slomka beeindrucken. So war die Führung der 96er zwar nicht verdient, aber auch nicht überraschend. Nach einem Pass von René Adler hatte Tomas Rincon den Ball an Huszti verloren, der nach knapp einer halben Stunde keine Mühe hatte, zur Führung der Niedersachsen einzuschieben. Die generelle Marschroute van Marwijks, das Spiel durch die Mitte zu eröffnen, hatte sich durch eine mangelhafte Umsetzung in dieser Szene als fatal erwiesen. „Zu langsam, zu viel Risiko“, lautete die Analyse des HSV-Coaches. Man habe den Gegner förmlich dazu eingeladen.

Für einen kurzen Moment baute sich eine bedrohliche Kulisse in den Hinterköpfen der HSV-Fans auf: Sollte auch dieses Spiel verloren gehen, betrüge der Vorsprung vor dem 16. Tabellenplatz nur noch einen Punkt. Angesichts der restlichen schweren Aufgaben in Wolfsburg, gegen Augsburg, bei den Bayern und gegen Mainz befände man sich ab sofort mitten im Abstiegskampf.

Zum Glück für die HSV-Anhänger währte diese grüblerische Phase nur drei Minuten. Nach einem Freistoß Calhanoglus faustete Ron-Robert Zieler eigentlich gekonnt aus dem Strafraum, doch Milan Badelj nahm den Ball volley und beförderte ihn aus über 20 Metern mit einer Bogenlampe zum 1:1-Ausgleich ins Tor (31.). „Es hätte auch damit enden können, dass ich den Ball in die dritte Etage des Stadions schieße, aber ich traf den Ball perfekt“, freute sich der Mittelfeldspieler, der sich unter der Woche mit Kroatien für die WM qualifiziert hatte und ganz offensichtlich viel Selbstvertrauen und Euphorie von der Nationalmannschaft mitbrachte.

„Dieses Tor hat unser Spiel beruhigt, das vorher doch eher von Nervosität geprägt war“, sagte Calhanoglu später, der auch zugab, dass ihm Rafael van der Vaart als Taktgeber doch sehr gefehlt habe. Und auch van Marwijk sprach nach dem Spiel davon, dass der frühe Ausgleich der wichtigste Moment gewesen sei – wohl dicht gefolgt von einer Aktion nur eineinhalb Minuten nach dem Wiederanpfiff, als Heiko Westermann eine Flanke gelang, vor der selbst seine größten Kritiker den Hut ziehen müssen, und der fleißige Maximilian Beister zur 2:1-Führung einköpfte. Initiator war allerdings erneut Badelj, der den Ball erobert und Westermann freigespielt hatte.

Im Boxen würde man von einem schweren Wirkungstreffer sprechen. Zwar hatte 96-Coach Mirko Slomka offensiv gewechselt, doch sein Team erspielte sich auch deshalb kaum eine Torchance, weil die Hintermannschaft des HSV kein unnötiges Risiko mehr einging. „Manchmal geht Fußball auch einfach“, sagte René Adler. „Wir haben uns gesagt: Dann hauen wir eben die Dinger lang und gehen auf die Eroberung der zweiten Bälle, pressen da.“ So tat der HSV genau das, was man von einer Mannschaft in dieser Drucksituation verlangt: Er verwaltete geschickt die Führung, verpasste es aber, angetrieben von einem immer besser werdenden Calhanoglu, früh für die Entscheidung zu sorgen.

Der Rest Unsicherheit war erst sechs Minuten vor dem Spielende beseitigt, als wieder Badelj den Ball eroberte (gegen Pocognoli), Beister losstürmte und Calhanoglu bediente, der aus elf Metern ins rechte lange Eck schoss. „Ich hatte es Rafael versprochen, dass ich ein Tor erziele, deshalb habe ich mich besonders gefreut“, sagte der Deutschtürke, der zudem mit Freude vernommen habe dürfte, dass van der Vaart beim TV-Sender Sky ankündigte, „vielleicht bin ich schon in zwei Wochen wieder dabei.“

So gingen die HSV-Fans am Ende nach dem Sprung aus der Abstiegszone zufrieden nach Hause, auch wenn es noch ein langer Weg sein wird, bis ihr Club größere Sprünge nach oben machen kann, selbst wenn die junge Mannschaft auch gegen Hannover einige gute Ansätze zeigte. Und auch Erdal Keser dürfte viele positive Dinge bemerkt haben. Der ehemalige Profi von Borussia Dortmund saß als Scout von Galatasaray Istanbul auf der Tribüne und hatte – natürlich – vor allem Calhanoglu im Blick.