Heiko Westermann will kein WM-Tourist sein. Im Abendblatt spricht der HSV-Kapitän über seinen Brasilien-Traum und wie er ihn realisieren will.

Herzogenaurach. Für Heiko Westermann stand am Wochenende zunächst mal Erholung auf dem Programm. Um 5.15 Uhr landeten der HSV-Profi und die anderen Nationalspieler nach dem 3:0 gegen Kasachstan am Sonnabend in Nürnberg, anschließend ging es direkt ins Mannschaftsquartier nach Herzogenaurach.

Hamburger Abendblatt: Heiko Westermann, lassen Sie uns zur Abwechslung mal die Kontinente wechseln und statt über Europa mit dem HSV lieber über Südamerika mit dem Nationalteam sprechen. Haben Sie nachts schon mal von der WM 2014 in Brasilien geträumt?

Heiko Westermann: Ich müsste lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich ab und an mal daran denken muss. Und ich bin nicht der einzige. Obwohl es noch mehr als ein Jahr hin ist, werde ich immer wieder von Freunden angesprochen, die mich um Karten bitten.

Werfen Sie doch mal Ihr Kopfkino an: Rio de Janeiro, ein ausverkauftes Maracanã, das WM-Finale Deutschland gegen Brasilien. Bekommt man da nicht bereits jetzt eine Gänsehaut?

Westermann: Natürlich wird man selbst im deutschen Winter richtig heiß, wenn man an das Turnier denkt. Für die Zeit der Weltmeisterschaft werden die Brasilianer vier Wochen lang durchfeiern.

Haben Sie diese WM-Begeisterung auch schon beim dreitägigen HSV-Trip nach Porto Alegre im Dezember gespürt?

Westermann: Es waren unglaublich intensive Tage, man hat diese Fußballbegeisterung der Brasilianer überall und zu jeder Zeit gespürt. Die Leute dort schauen nicht einfach nur Fußball, sie leben Fußball. Im Stadion herrschte eine Atmosphäre, die mit europäischen Verhältnissen nicht zu vergleichen ist.

Wird es unabhängig vom sportlichen Erfolg die beste WM aller Zeiten?

Westermann: Die WM 2006 in Deutschland war auch schon ziemlich beeindruckend, aber in Brasilien hat eine Fußball-Weltmeisterschaft noch mal einen ganz anderen Stellenwert. Nimmt man das ganze Paket, dann kann es nichts Besseres als eine WM in Brasilien geben. Ich bin mir auch sicher, dass es für lange Zeit das letzte wirklich besondere Turnier sein wird. Nach Brasilien ist Russland dran, dann die umstrittene WM im Katar. Bei allem Respekt, aber wahrscheinlich würde jeder Fußballer lieber viermal in Folge in Brasilien spielen als nur einmal im Katar.

Haben Sie sich ein spezielles Trainingsprogramm vorgenommen, um bei der WM in Brasilien dabei zu sein?

Westermann: Wir sollten ja nicht vergessen, dass wir uns zunächst mal als Mannschaft qualifizieren müssen. Ich persönlich habe mir aber kein spezielles WM-Trainingsprogramm ausarbeiten lassen. Neben dem Training beim HSV mache ich noch zwei bis drei Athletik- und Stabilisationseinheiten in der Woche mit Nikola Vidovic. Ganz wichtig ist mir aber mein mentales Training, was ich jedem nur empfehlen kann.

Was genau machen Sie da?

Westermann: Ein Freund hilft mir seit einigen Jahren, mich besser zu fokussieren. Es geht darum, wie man sich selbst wahrnimmt und wie man bei der schnellen Taktung heutzutage nicht die Sicht auf das große Ganze verliert. Besonders der letzte Punkt ist mir wichtig, da ich ja schon ein paar Jahre dabei bin, und man irgendwann droht, das Wesentliche aus den Augen zu verlieren.

Haben Sie sich über die Jahre verändert?

Westermann: Permanent. Besonders in meinem ersten HSV-Jahr habe ich eine echte Talfahrt verkraften müssen, da hat mir mein Mentaltraining viel Kraft gegeben. Auch die letzte Saison mit dem Abstiegskampf war schwer. Ich musste ja auch damit klarkommen, dass ich bis 2010 eigentlich immer bei der Nationalmannschaft dabei war und plötzlich keine Rolle mehr spielte.

Seit 2010 haben Sie nicht mehr für Deutschland gespielt. Gab es mal den Moment, an dem Sie die Traum-WM in Brasilien für sich abgehakt hatten?

Westermann: Natürlich war ich zwischenzeitlich in der vergangenen Saison mal sehr weit weg von der Nationalmannschaft und dann fängt man an zu zweifeln, aber so richtig abgehakt habe ich die Nationalmannschaft nie. Ich glaube auch, dass ich so gefestigt bin, dass mich ein schwächeres Spiel nicht gleich aus dem Konzept bringen kann. Und nach dieser langen DFB-Pause bin ich nun umso motivierter.

Einen Monat nach dem WM-Finale in Rio werden Sie 31 Jahre alt. Eigentlich gibt es doch keine bessere Möglichkeit, als die Nationalmannschaftskarriere dann zu beenden.

Westermann: Warum denn? Dafür spiele ich viel zu gerne für Deutschland. Solange ich fit bin und eingeladen werde, will ich an ein Ende meiner Nationalmannschaftskarriere nicht denken.

Wie bitter war es, als Sie für die WM in Südafrika fest eingeplant waren, sich aber kurz vor dem Turnier verletzten?

Westermann: Etwas Schlimmeres kann einen Fußballprofi gar nicht passieren. Ich konnte mir ja zu 90 Prozent sicher sein, dass ich bei der WM sogar in der Startelf stehe. Und dann passiert so was.

Erinnern Sie sich noch an dem Moment, als Sie die WM abhakten?

Westermann: Diesen einen Moment gab es nicht. Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich mich beim Freundschaftsspiel gegen Ungarn eine Minute vor Schluss auf ein Dribbling einließ und dann beim Versuch, den Ball zu schießen, unglücklich die Stollen des Gegners erwischte. Es hat gleich ziemlich weh getan, aber in diesem Moment war mir noch nicht klar, dass es so schlimm war. Erst als ich abends im Hotelzimmer lag und vor Schmerzen nicht einschlafen konnte, wurde mir langsam bewusst, dass es mit der WM eng werden würde. Und als dann die Diagnose Kahnbeinfraktur bestätigt wurde, hatte ich endgültig Gewissheit.

Brauchten Sie Hilfe, das zu verdauen?

Westermann: Durch mein Mentaltraining war ich gefestigt, aber natürlich hat mir auch meine Familie Trost gespendet. Wirklich hart war für mich, dass ich einen Liegegips bekam. Ich musste also die ganze WM über auf der Coach liegen bleiben, durfte nicht aufstehen und konnte die Spiele nur vom Sofa aus verfolgen.

Das soll bei dieser WM anders werden. Muss der Titel das Ziel sein?

Westermann: Wenn Deutschland bei einer WM teilnimmt, dann ist natürlich immer der Titel das Ziel. Das Blöde an der ganzen Sache ist nur, dass wir diese Zielsetzung nicht exklusiv haben. Wir haben sehr gute Titelchancen, aber das gilt auch für andere.

Sie meinen Spanien und...

Westermann: ...Brasilien im eigenen Land. Das sind mit uns die Topfavoriten, dazu kommen noch Argentinien und auch Frankreich.

Sie wurden zuletzt mehrfach eingeladen, durften aber nie spielen. Überwiegt die Freude über die Einladung oder der Ärger über den Stammplatz auf der Bank?

Westermann: Ich freue mich immer, wenn wir erfolgreich sind. Aber selbstverständlich ärgere ich mich auch, wenn ich nicht spielen darf. So ehrgeizig sollte man als Fußballer schon sein. Ich könnte mich beispielsweise nur schwer mit dem Gedanken arrangieren, lediglich ein WM-Tourist zu sein. Aber wenn mir irgendjemand anbietet, dass Deutschland Weltmeister wird und ich komme nur einmal kurz zum Einsatz, würde ich wohl trotzdem einschlagen.

Sie sind seit fünf Jahren bei der Nationalmannschaft dabei. Hat sich in dieser Zeit die Kern-DNA des Teams verändert?

Westermann: 2008 war das Tempo unserer Mannschaft bereits hoch, aber technisch hatten wir Luft nach oben. Das hat sich mit Spielern wie Mario Götze, Marco Reus oder Mesut Özil geändert. Diese Jungs hätten einen Stammplatz in jedem Team der Welt.

Was nehmen Sie nach einer Woche mit Götze und Co mit nach Hamburg?

Westermann: Qualitativ ist das Training bei der Nationalmannschaft natürlich nicht zu kopieren. Besonders die Schnelligkeit ist brutal. Ich lerne hier bei jeder Einheit dazu. Trotzdem hätte ich auch nichts dagegen, mal zu spielen.