Der frühere St.-Pauli-Trainer Holger Stanislawski kommt am Sonntag mit Hoffenheim zurück nach Hamburg und will drei Punkte mitnehmen.

Hamburg. 195 Tage ist es her, als er ein letztes Mal das Rasenviereck seines Wohnzimmers am Millerntor mit bedächtigem Gang abschritt. Der Feld-Herr nahm die letzte Parade ab, suchte die Augenpaare auf den voll besetzten Tribünen, scannte die Szenerie im Bemühen, das, was 18 Jahre sein persönliches Hintergrundbild geliefert hatte, mit allen Details abzuspeichern. Die Arme in die Luft gestemmt unterbrach er seinen Applaus nur für kurze Momente, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. Von den 24 500 Zuschauern am Millerntor saß keiner mehr. Sie erwiesen einem Mann die Ehre, der den FC St. Pauli geprägt hatte wie kein anderer zuvor. Das vorangegangene 1:8 gegen den FC Bayern München war zum statistischen Wert eines Eckenverhältnisses verkommen. Ein unvergleichlicher Gänsehautmoment zum Abschied, der mehr war als ein Vereinswechsel. Holger Stanislawski verließ den Kiezklub, vor allem aber seine Stadt, in der er 42 Jahre lang gelebt hatte, ab sofort und erstmals räumlich getrennt von Freunden und Familie, Ehefrau Michelle, Vater, Bruder und Schwester. Am Wochenende kehrt er nun zurück nach Hamburg, erstmals in offizieller Mission. Mit seiner Mannschaft, der TSG Hoffenheim, die am Sonntag (17.30 Uhr/Sky und Liveticker auf Abendblatt.de) beim HSV antritt.

16-mal ist er seit dem Sommer bereits zurückgekehrt, und der aktuelle Trip wird nicht länger als 35 Stunden dauern, "aber natürlich ist das trotzdem ein anderes Spiel für mich - und auch für die anderen beiden", sagt Stanislawski, der seine Co-Trainer André Trulsen und Kape Nemet vom Millerntor nach Hoffenheim mitgenommen hatte, "es findet eben in unserer Heimatstadt statt." Wenngleich dem Trio, das für das Spiel 50 Karten für Freunde und Verwandte geordert hat, die Situation als Gast im HSV-Stadion durchaus vertraut ist. Am 16. Februar fügten sie dem Gegner vom Sonntag eine der schmerzhaftesten Niederlagen der jüngeren Vereinsgeschichte zu, gewannen mit ihrem FC St. Pauli 1:0 im Volkspark und holten für den Außenseiter nach mehr als 33 Jahren den ersten Sieg im Stadtderby. Ein gutes Omen? "Völlig unwichtig", widerspricht Stanislawski energisch, "das Spiel vom Februar hat überhaupt keine Bedeutung für Sonntag. Es ist kein Derby, es ist nicht Klein gegen Groß. Die Brisanz liegt allein bei Truller, KaPe und mir." Überhaupt gebe es kaum Vergleichbares zum Duell zwischen Schwarz-Weiß-Blau und Braun-Weiß. "Bei uns wurde zuletzt vor dem Spiel gegen den VfB darüber diskutiert, ob das ein Derby sei. Natürlich war das den Fans wichtig, aber es ist doch allenfalls ein Nachbarschaftsduell. Stuttgart ist fast 100 Kilometer entfernt."

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Stanislawski ist längst angekommen im Kraichgau, wo er seit einer Woche nun auch das Hotelleben zugunsten einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung aufgegeben hat. Wie in Hamburg ist er ohnehin meist auf dem Trainingsgelände anzutreffen, hört auf "Schdanni" schon genauso gut wie auf das hanseatische "Sdahni", auch kleine regionale Eigenheiten haben sich eingeschlichen. Hatte er bei St. Pauli stets mit "meinen Jungs" gewonnen und verloren, spricht er nun von seinen "jungen Burschen". Man muss schon ganz genau hinhören, um Veränderungen herauszuhören. Er hat sich in dem von Mäzen Dietmar Hopp gesteckten professionalisierten Rahmen nicht verbiegen lassen und auch seinen Humor bewahren können. So schlug er vor, die Mannschaft könne in der Nacht vor dem Spiel bei Trulsen, Nemet und ihm im Vorgarten zelten.

Und doch schwingt in seinen Worten eine bislang unbekannte Anspannung mit. Erstmals findet sich der Bramfelder im neuen Umfeld in einer leichten Drucksituation wieder. Vier Siegen aus den ersten sechs Partien, darunter der euphorisierende 1:0-Erfolg über den deutschen Meister Borussia Dortmund folgte in den vergangenen sechs nur noch ein Erfolg, mit dem leidenschaftslosen 1:1 gegen Kaiserslautern zuletzt sogar ein echter Tiefpunkt. "Die Burschen verfallen in alte Fehler, laufen zu viel mit dem Ball", hat er erkannt, vermisst Automatismen und das konsequente Umsetzen der Vorgaben. Vor allem aber ist es ihm noch nicht gelungen, der Ansammlung an hochbegabten Individualisten jene Qualität einzuverleiben, mit der sein Kollektiv beim FC St. Pauli den Sprung von der Regionalliga bis in die Bundes-liga schaffte. Jenes unerschütter-liche Selbstbewusstsein, getragen vom Teamgedanken und dokumentiert durch leidenschaftliche Zweikampfführung und mutigen Offensivfußball. "Uns sind die Basics abhandengekommen. Uns fehlt diese Mentalität, diese Überzeugung, dass wir, wenn wir unsere Leistung über 90 Minuten abrufen, mit hoher Wahrscheinlichkeit als Sieger den Platz verlassen. Nur durch Fußballspielen kannst du nicht gewinnen ", weiß Stanislawski, der im Umfeld weiter Vertrauen genießt, in den Medien aber erstmals kritisiert wird: "Diese Schwarz-Weiß-Malerei mache ich nicht mit. Erst hatten wir den besten Start aller Zeiten, und jetzt ist alles so schlecht wie nie? Das kann es nicht sein."

Und so verhält sich Stanislawski so, wie man es aus Hamburger Zeiten von ihm gewohnt war. "Uns fehlt der eine oder andere Zähler, aber der HSV müsste von den Rahmenbedingungen her Dritter in der Liga sein. Der Druck liegt nicht bei uns", sagt er. Auch für Holger Stanislawski geht es am Sonntag nur um drei Punkte: "Natürlich ist dieses Spiel wichtig, aber die emotionale Rückkehr wird es erst im Januar geben." Am 15., im Testspiel beim FC St. Pauli.