Nach dem 2:2 gegen Hertha erinnern die Hamburger daran, dass das Team noch in der Findungsphase sei. Wie lange die dauert, weiß aber niemand

Hamburg. Frank Arnesen hatte offenbar Redebedarf. Mehr als 40 Minuten lang unterhielt sich der HSV-Sportchef am Sonntagvormittag mit Trainer Michael Oenning und begründete das ausführliche Vieraugengespräch am Rande des Trainings mit einer bemerkenswerten Erklärung: "Wenn man ein Spiel verliert, gibt es immer mehr zu besprechen, als wenn man ein Spiel gewinnt."

Zwar hatte der HSV sein erstes Heimspiel am Vortag gegen Hertha BSC nach objektiven Kriterien nicht verloren, nach subjektivem Empfinden wurde das unverdiente 2:2-Unentschieden gegen den Aufsteiger aber folgerichtig als gefühlte Niederlage eingeordnet. "Wir hatten gute und schlechte Phasen im Spiel", sagte Kapitän Heiko Westermann, "leider waren es deutlich mehr schlechte." Hertha BSC schoss mehr als doppelt so oft auf das Tor (22:9), gewann deutlich mehr Zweikämpfe (53,1:46,9 Prozent), flankte mehr als dreimal so häufig (14:4) und hatte mehr Ballkontakte (395:322) als der HSV. Trotzdem lautete das Ergebnis am Ende von 90 zumindest abwechslungsreichen Minuten 2:2, weil der HSV nach Toren von Mladen Petric (25.) und Son Heung-min (61.) zweimal in Führung ging, die Berliner aber durch den Ex-Hamburger Torun (43.) und durch Mijatovic (88.) jeweils ausglichen.

Zur Geschichte des Spiels, die zumindest aus Hamburger Sicht relativ schnell erzählt ist, gehört allerdings auch, dass der HSV trotz allem bis zwei Minuten vor Schluss wie der glückliche Sieger aussah. Erst eine folgenschwere Fehleinschätzung des früheren Berliners Jaroslav Drobny, der eine Flanke unterlief, nutzte Mijatovic zum späten, aber verdienten Ausgleich. "Wenn ich den Fehler nicht mache, gewinnen wir das Spiel", präsentierte sich Drobny nach dem Abpfiff reumütig.

Die gewohnt gute Laune wollte sich Arnesen trotz des späten Ausgleichs nicht nehmen lassen. "Wir wissen ganz genau, dass sich so ein Umbruch nicht von einem auf den anderen Tag umsetzen lässt", sagte der Däne mit einem Lächeln auf den Lippen, "wir brauchen noch Zeit. Michael und die Mannschaft werden diese Zeit bekommen."

Kein Thema wurde im Anschluss an das Spiel so sehr diskutiert wie der Faktor Zeit. "Noch passt nicht alles zusammen. Wir brauchen noch Zeit, uns zu finden", sagte etwa Mladen Petric und wurde umgehend durch Dennis Aogo unterstützt: "Wir sind noch auf der Suche nach der eigenen Identität." Lediglich die Frage, wie lange diese Suche andauern wird, konnte kein Hamburger plausibel beantworten. "Es wird noch länger dauern, bis alles klappt", ließ sich nur Trainer Oenning zu einer unpräzisen Einschätzung hinreißen.

Also alles nur eine Frage der Zeit?

Tatsächlich konnten Hamburgs Verantwortliche anführen, dass mit Jeffrey Bruma, 19, Michael Mancienne, 23, Gökhan Töre, 19, und Per Skjelbred, 24, gleich vier von im Sommer fünf verpflichteten Talenten in der Anfangself standen, die zuvor noch nie ein Bundesliga-Spiel in Hamburg absolviert hatten. Das Durchschnittsalter der Viererkette, am zweiten Spieltag der Vorsaison bei 27,5 Jahren, lag in der Partie gegen Berlin bei gerade mal 21,7 Jahren. Je länger diese vielversprechenden Nachwuchskräfte gemeinsam spielen, so die Hoffnung von Arnesen und Oenning, desto besser wird das Zusammenspiel. Eben alles nur eine Frage der Zeit!

Ob diese Rechnung aber tatsächlich aufgeht, wird wohl erst in einigen Monaten seriös bewertet werden können. Was allerdings bereits im Hier und Jetzt hinterfragt werden muss, ist, warum sich der HSV in 90 Minuten gegen den Aufsteiger aus der Hauptstadt lediglich drei Torchancen erspielen konnte. "Wir dürfen ganz einfach nicht so viele Fehler in der Vorwärtsbewegung machen", analysierte Linksverteidiger Aogo, der sich aber trotz der beängstigenden Fehlerquote energisch gegen Weltuntergangsszenarien vor dem nächsten Spiel bei Bayern München wehrte: "Bei allem Respekt, aber wir haben keine Krise. Wir haben noch 32 Spieltage, da brauchen wir nicht davon zu reden, dass wir in Abstiegsgefahr sind."

Auch Oenning versucht vor der Partie beim Rekordmeister, das bildliche Wasserglas zur Hälfte zu füllen, statt zu leeren. "In München werden wir nicht das Spiel machen müssen. Vielleicht ist das in der jetzigen Findungsphase für uns sogar besser", sagte der HSV-Trainer, der dann aber doch realistisch einschätzte, dass man Geduld in der Bundesliga nicht überstrapazieren sollte: "Ich weiß auch, dass wir keine Zeit haben, um auf Probe zu spielen." Denn dann wäre es tatsächlich nur eine Frage der Zeit, bis es ungemütlich würde.