Wieder einmal verfestigt sich beim Bundesliga-Dino nach dem Fall Matthias Sammer der Eindruck von Dilettantismus beim HSV. Nur Vorurteil?

Wäre der HSV doch nur ein menschliches Wesen. Dann würde wenigstens ein flehender Brief helfen, das aufgestaute Leid loszuwerden: "Ach HSV! Du stolzer Europapokalgewinner, deutscher Meister, Pokalsieger und ewiger Bundesliga-Dino. Was ist bloß aus dir geworden, du Klub der zerplatzten Träume? Du gleichst einem Schwarzen Loch in der Atmosphäre, das unerbittlich alles verschlingt. Topspieler, Trainer, Aufsichtsräte - und Sportchefkandidaten. Wann entkommst du endlich dieser schleichenden Agonie?"

So könnten die Fans denken. Denn es war wie immer. Über sechs lange Wochen zog sich das Ringen um die Verpflichtung von Matthias Sammer hin. Der Sportdirektor des Deutschen Fußballbundes sollte eine neue Ära beim HSV einleiten. SAMMER! Die HSV-Fans und die Medien der Stadt reagierten elektrisiert bei diesem klangvollen Namen. Ja, Sammer würde den dahindümpelnden und stagnierenden HSV mit einer Mega-Infusion Leidenschaft, Ehrgeiz und vor allem sportlichen Konzepten versorgen, damit der HSV bald wieder dort steht, wo er hingehört. Natürlich ganz oben. 24 Jahre hatten die Hamburger auf die Ankunft des Messias gewartet. Gäbe es ein Verfallsdatum für Titel auf Briefköpfen, dürfte beim HSV nur noch stehen: Ligapokalsieger 2004, UI-Cup-Sieger 2006 und 2008. Bezeichnend, dass als bestes Spiel der Neuzeit ein 4:4 gegen Juventus Turin in der Champions-League-Saison 2000/01 herhalten muss. Ein Unentschieden!

Als sich die Personalie Sammer dann am Freitag als flüchtige Utopie entpuppte und der Europameister von 1996 den Klubbossen unprofessionelles Verhalten vorwarf, stürzte dies viele HSV-Fans, für die der Klub längst nicht nur ein Fußballverein, sondern wie eine große Familie ist, in Frust und tiefe Depression. Gelingt diesem HSV denn überhaupt nichts mehr? Wie viel zu oft in der jüngeren Vergangenheit steht der Klub wieder - gefühlt - vor dem Nichts.

Der Versuch, seit 1987, dem letzten DFB-Pokalsieg, wieder einen Titel zu gewinnen. Gescheitert. Das Bestreben, einen Trainer zu verpflichten, dessen Amtszeit länger dauert als die Suche nach selbigem - misslungen. Schon im Dezember dachte HSV-Coach Armin Veh laut darüber nach, ob er seine persönliche Winterpause auf unbestimmte Zeit verlängern soll. Der Traum, eine große Mannschaft aufzubauen, die sich mit dem HSV identifiziert und die für die Raute um ihr Leben rennt - nur ein frommer Wunsch. Stattdessen kämpfte mit Ruud van Nistelrooy der beste Spieler mit Macht darum, den Klub Richtung Madrid verlassen zu dürfen. Ein trauriges Signal. Nicht zu vergessen der freiwillige Rückzug des Aufsichtsratsvorsitzenden Horst Becker, der, zermürbt von der fehlenden Rückendeckung seiner Mitglieder, sein Amt zur Verfügung stellt, aber noch nicht einmal so konsequent ist aufzuhören, sondern als einfaches Mitglied weitermacht.

Und dann noch die peinliche Sportchefsuche. Wenn woanders ein Manager seine Koffer packt, wird eine Woche später der Neue präsentiert. Beim HSV suchte Dietmar Beiersdorfer das Weite, weil er den Machtkampf mit Bernd Hoffmann verloren hatte. Danach musste eine Art Taskforce (Sportchef-Findungskommission) einberufen werden, die nach einer monatelangen, von etlichen Verwerfungen gekennzeichnete Suche mit Bastian Reinhardt einen Neueinsteiger präsentiert, der mit einem Rucksack öffentlicher Skepsis beladen wurde. Reinhardt? Das war doch dieser verletzte Spieler, der sich zuvor auf der Geschäftsstelle mit dem Schreiben von Kolumnen seine Zeit vertrieben hatte. Ein Berufsanfänger für einen Verein, der von seinen Möglichkeiten der einzige natürliche Rivale des FC Bayern München ist?

All die negativen Vorurteile scheinen sich zu bestätigen: Längst könnte der HSV wieder an die ruhmreiche Vergangenheit anknüpfen, wenn er nicht von so vielen Dilettanten geführt würde. Dabei hat sich der Verein doch so prächtig entwickelt, die Rahmenbedingungen sind so hervorragend wie nie zuvor. Das häufig ausverkaufte Stadion und die treuen Sponsoren sorgen dafür, dass der HSV 47 Millionen Euro an Gehältern zahlen und sich ein Ensemble leisten kann, in dem es von Nationalspielern nur so wimmelt. Dass mit Aogo, Westermann, Jansen und Trochowski vier aktuelle deutsche Nationalspieler für den HSV auflaufen, wäre früher undenkbar gewesen. Mathjsen, Elia - Vize-Weltmeister. Van Nistelrooy, Zé Roberto - Weltklassespieler, wenn auch in die Jahre gekommen. Noch vor acht Jahren mussten die Fans Namen wie Lars Jacobsen oder Marcel Maltritz rufen. Zuletzt war der Klub ständiger Gast im Europapokal, zwei Halbfinalteilnahmen in der Europa League zeugen von der gewachsenen sportlichen Qualität. Die Zahl der Mitglieder wuchs auf die imposante Zahl von 69 800, in sechs Jahren ist das vereinseigene Stadion zum größten Teil abbezahlt. Aber was kommt am Ende raus? Kein Titel. Kein Finale. Und noch nicht einmal die Hoffnung, dass es bald besser wird. NICHTS!

Wie ein Fluch hängen die vielen Erfolge der Vergangenheit über den handelnden Personen. Mit einem hohen, zu hohen Anspruchsdenken wächst logischerweise die Gefahr, die Anhänger zu enttäuschen. Dass der Klub zu Beginn der letzten Dekade bevorzugt Platz neun erreichte und jetzt im Schnitt Sechster ist, korreliert nicht mit der Wahrnehmung vieler Fans, der HSV müsste mit seinen Möglichkeiten um Platz eins bis drei mitspielen. Dabei ist der Verein längst noch nicht so weit.

"Ach HSV, du millionenschweres Unternehmen! Wieso schaffst du es nicht, im Verein an wichtigen Schaltstellen Experten zu installieren, die mit ihrer Erfahrung im Profifußball dafür sorgen, dass die nötige Professionalität auf allen Ebenen einkehrt?"

Um sich in diesen Tagen als (vermeintlicher) HSV-Experte auszuweisen, genügen folgende Standardsätze: 1. "Im Aufsichtsrat sitzen doch sowieso nur Leute, die keine Ahnung vom Fußballgeschäft haben." 2. "Bastian Reinhardt als Sportchef des HSV, das ist ungefähr so, als würde man eine Aushilfe in der Kantine sofort zum Küchenchef befördern." 3. "Klubchef Bernd Hoffmann (,der HSV, das bin ich') stellt mit seinem absolutistischen Denken sogar Ludwig XIV. in den Schatten." 4a. "Für die Zukunft sehe ich schwarz." 4b. "Das wird nie was."

Natürlich ist die Wahrheit über den HSV viel komplexer, der einer Regierungspartei ähnelt, in der die Opposition gleich mitbestimmen darf und keine wichtige Entscheidung ohne einen Volkentscheid, also ohne die Mitglieder, getroffen werden darf. Kein anderer Verein in Deutschland lebt die Basisdemokratie so vor wie der HSV. Nicht zu vergessen die Öffentlichkeit, die mikroskopisch-kritisch jede Entscheidung der HSV-Oberen seziert, gerne unter Zuhilfenahme der Expertise früherer prominenter Würdenträger (Uwe Seeler, Wolfgang Klein), deren häufig vernichtendes Urteil die geleistete Arbeit in schlechtem Licht dastehen lässt. Kein Wunder, dass der HSV längst als "unregierbar" gilt, obwohl dieses pauschale Klischee nicht immer der Realität entspricht.

Besonders der erst am 9. Januar neu zusammengestellte Aufsichtsrat war während der Gespräche mit Sammer extrem bemüht, den Vorwurf der fehlenden Professionalität zu entkräften. Unter großem zeitlichen Einsatz verhandelte ECE-Chef Alexander Otto, der stellvertretende Vorsitzende des Kontrollgremiums, die Konditionen des Superdeals mit Sammer bis in die Details aus. Bis auf das Vorpreschen des frisch dekorierten Aufsichtsratschefs Ernst-Otto Rieckhoff, der euphorisch beschwingt eine bevorstehende Einigung verkündete, können sich die Klub-Funktionäre keinen Vorwurf machen, schon gar nicht einen entscheidenden. Doch am Ende stehen sie - wie in der Sportchefsuche nur zu oft - als Verlierer da, als Amateure, weil der HSV einer täglichen TV-Gerichtssoap gleicht, in der Verfehlungen und Versäumnisse aus der Vergangenheit nie verjähren, sondern urteilsverschärfend im aktuellen Fall wirken, nach dem Motto: Wer einmal den Ruf als durchaus unterhaltsamer, aber peinlicher Zwölferrat weghat, wird das Image nicht mehr los.

Der Fall Sammers zeigt dennoch exemplarisch, woran es den Räten noch mangelt: Mut zum konsequenten, zum unbequemen Handeln. Wer erst zur Erkenntnis gelangt, dem amtierenden Sportchef Bastian Reinhardt mangele es an den nötigen Qualitäten, um die nötigen Reformen des HSV voranzutreiben, und die Gespräche mit Sammer aufnimmt, kann nicht nach dem Scheitern der großen Lösung glauben, einfach mit der (angeblich gescheiterten) Notlösung Reinhardt weiterarbeiten zu können. Indirekt wird so auch die Schwächung der Position von Bernd Hoffmann hingenommen, dessen Vertrag am Ende des Jahres ausläuft. Mit einem starken Sportchef an seiner Seite hätte der Klubchef für eine Aufbruchstimmung sorgen können, doch er steht nun weiter alleine im Wind. Schließlich fehlt Reinhardt noch immer die Anerkennung großer Teile im Verein. Dass sich sogar Trainer Armin Veh nach dem letzten Spiel gegen Eintracht Frankfurt öffentlich äußert, Reinhardt könne "das alles mit seinen 35 Jahren doch gar nicht bewerkstelligen", spricht ebenfalls nicht gerade für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Dass im Vorstand jetzt Hoffmann und Reinhardt ein Erfolgsduo bilden, ist ungefähr so wahrscheinlich wie die Zusage von Franz Beckenbauer als Sportchef.

Ach HSV! Dein Klassenbester Borussia Dortmund macht es doch vor, wie man erfolgreich sein kann. Mit jungen, hungrigen Spielern, die sogar aus der Region kommen. Die aber nicht nur mit heißem Herzen, sondern mit System, mit Verstand spielen. Wer soll bloß jetzt nach Sammers Absage für eine tragfähige Klubphilosophie sorgen?"

Nachdem mit dem Abgang des früheren Sportdirektors Dietmar Beiersdorfer im Juni 2009 über ein Jahr ein sportliches Vakuum entstanden war, verlieren die HSV-Aufsichtsräte nun erneut wertvolle Zeit bei den mittelfristigen Planungen, weil sie nicht in blinden Aktionismus verfallen wollen. Doch wie soll ein Reinhardt, der jetzt extrem unter Druck steht, sich zu profilieren, die richtigen Entscheidungen treffen. Ist er wirklich in der Lage, einen Zwei-, Drei-Jahres-Plan zu erstellen, an deren Ende eine HSV-Mannschaft so spielt, dass ein Plan zu erkennen ist? Kann er die hoch talentierten, aber günstigen Fußballer an die Elbe locken, die womöglich erst an der Schwelle zur großen internationalen Karriere stehen? Dass beim HSV ein Paradigmenwechsel stattfinden muss, ist allen im Klub klar. Angesichts noch offener Transferzahlungen in Höhe von 20 Millionen Euro kann es sich der Verein nicht leisten, stattliche Ablösen zu zahlen. Die Zeiten, in denen für Marcus Berg (für zehn Millionen Euro von Groningen) und Eljero Elia (für neun Millionen Euro von Twente Enschede) tief in die Schatulle gegriffen wurde, sind vorbei.

Das Paradoxe daran: Parallel zu der sich verschärfenden Führungskrise schaffte es der HSV mit drei Siegen in der Bundesliga in Folge, wieder Kontakt zu den Champions-League-Rängen herzustellen. Nur noch vier Punkte trennen die Hamburger von Platz drei. Die Klubrangliste der Uefa lässt sich sowieso sehen. Doch Platz 17, noch vor Tottenham Hotspurs, ZSKA Moskau oder Atlético Madrid, zeugt nur von den gesammelten Wertungspunkten in der Europa League und im UI-Cup gegen international zweitklassige Vereine wie NEC Nijmegen oder Dinamo Zagreb.

Es wäre das übliche, naive Muster, dass sich die HSV-Verantwortlichen und die ganze HSV-Familie jetzt an das Prinzip Hoffnung klammern und glauben, in den restlichen 15 Spielen würde die Mannschaft von Verletzungen verschont bleiben, ihr Phlegma ablegen und nicht ihr durchaus vorhandenes Potenzial verschwenden, damit der HSV nicht im Mai sagen muss: Schade, mit der Champions League war es mal wieder nichts. Aber, psst: Es ist doch eine hübsche Träumerei. Und mit einem Einzug in die Königsklasse mit den vielen Millionen Euro Einnahmen könnte der HSV doch weiter an seinem Team der Zukunft basteln. Wer weiß, vielleicht lernt ja Reinhardt doch schneller, als man glaubt. Man muss ihm nur noch etwas Zeit geben. Und wenn alle Fans ganz doll daran glauben, dann arbeitet sogar der zuletzt zerstrittene HSV-Aufsichtsrat kritisch, aber konstruktiv mit, damit die Wahrscheinlichkeit für neue Fehlentscheidungen sinkt.

"Ach, HSV! Ich verlange ja gar nicht, dass du in den kommenden zwei Jahren deutscher Meister wirst oder die Champions League gewinnst und dafür Klub- oder Spieleranteile verscherbelst. Aber ich würde mir so sehr wünschen, dass du endlich nur noch Leute beschäftigst, die hier in Hamburg nicht nur ihr Geld abholen und den Verein als Durchgangsstation sehen. Die wirklich lernen wollen, was die Faszination dieses HSV ausmacht und sich nach und nach mit den Werten dieses Vereins identifizieren. Ich habe keine Lust mehr, immer wieder und wieder zu sagen: Am Ende war es nichts."