Mainz-Trainer Thomas Tuchel spricht vor dem Spiel gegen den HSV über fehlende Privatsphäre, Autorität und den Nutzen von Notizen.

Hamburg/Mainz. Thomas Tuchel hat gute Laune. Das Gespräch beginnt der Mainzer Erfolgstrainer mit einem vergnügten "Guten Tag, Herr Goethe", und auch sonst lacht der 37-Jährige viel und gerne während des Interviews. Erst als man auf die Fokussierung auf seine Person zu sprechen kommt, wird Tuchel ernst.

Abendblatt:

Herr Tuchel, Nationalspieler Heiko Westermann hat behauptet, dass Mainz im Spiel gegen den HSV der "ganz klare Favorit" sei. Hat er recht?

Thomas Tuchel:

Wenn man die aktuelle Form berücksichtigt und die Tabelle als Maßstab nimmt, dann hat er wohl recht. Wenn man die Größenordnung der beiden Klubs miteinander vergleicht, dann kann Mainz 05 niemals der Favorit im Spiel gegen den HSV sein. Hamburg gehört unter die Top Vier der Bundesliga, wir nicht.

Der HSV gibt 45 Millionen Euro für Gehälter aus, Mainz 05 dafür nur 14 Millionen Euro. Ist es überhaupt realistisch, dass Ihre Mannschaft am Saisonende mal vor dem HSV steht?

Tuchel:

Es ist möglich. Die Etattabelle ist nicht gleichbedeutend mit der Abschlusstabelle, das haben wir mit Platz neun in der vergangenen Saison bewiesen. Exemplarisch ist doch, dass der HSV Ruud van Nistelrooy von Real Madrid verpflichtet, wir dagegen Adam Szalai aus Madrids Reserveteam holen.

Sind Sie neidisch auf die Möglichkeiten, die Ihr Kollege Armin Veh hat?

Tuchel:

Überhaupt nicht. Wir können unendlich viele Vergleiche aufstellen, die belegen, wie unterschiedlich die beiden Klubs sind. Ein weiteres Beispiel: Wir leihen Lewis Holtby von Schalke für Kleingeld aus, der HSV kauft Schalkes Kapitän Westermann für einige Millionen. So oder so: Jeder muss das Beste aus seinen Möglichkeiten machen.

Das ist Ihnen bislang ziemlich gut gelungen. Auf was müssen sich Ihre Spieler einstellen, wenn Ihre Siegesserie am Sonnabend gegen den HSV reißt? Sie sollen ja ein sehr schlechter Verlierer sein.

Tuchel:

Das stimmt zwar, aber ich beschäftige mich nicht mit Eventualitäten und schon gar nicht mit negativen Szenarien. Wir weigern uns beharrlich gegen die erste Niederlage.

Vor dem Duell mit dem HSV haben Sie entschieden, sich öffentlich nur zum Spiel zu äußern, Interviews über den Menschen Tuchel aber abzulehnen. Ist Ihnen das mediale Interesse unheimlich?

Tuchel:

Unheimlich ist das falsche Wort. Ich will einfach nicht das Gesicht des Mainzer Erfolges sein, genauso wenig wie ich das Gesicht des Misserfolges nach einer Durststrecke sein will. Der Klub ist größer als der Trainer, deswegen will ich nicht immer im Fokus der Öffentlichkeit stehen.

Stellen Sie sich mal vor, Sie führen ein Interview mit dem derzeit erfolgreichsten Trainer der Bundesliga, dürfen aber nur Fragen zum kommenden Gegner stellen. Was würden Sie wissen wollen?

Tuchel:

(lacht) Ich hätte natürlich ein großes fachliches Interesse an Taktik und Aufstellung, wüsste als guter Journalist aber, dass mir der Trainer darüber nichts verraten wird. Ich gebe zu: Als Journalist wäre ich in einer Zwickmühle, aber ich bin ja Trainer.

Wie viele Interviewwünsche hatten Sie in dieser Woche auf dem Schreibtisch?

Tuchel:

Ich könnte jeden Tag mehrere längere Interviews für Magazine, Zeitungen und Fernsehsender geben. Aber wenn ich die alle annehmen würde, dann bräuchte meine Mannschaft einen neuen Trainer, der mit ihr arbeitet.

Erinnern Sie sich manchmal wehmütig an die Zeiten als A-Jugendtrainer zurück, wo Sie gezielt mit Ihren Spielern arbeiten konnten, ohne dabei durch Fans und Medien gestört zu werden?

Tuchel:

Diese Zeiten gibt es ab und zu, in der Tat. Ganz konkret war mal wieder einer dieser Momente nach dem Spiel vor zwei Wochen gegen 1899 Hoffenheim erreicht, als einige Medien versucht hatten, meinen Jubel auf dem Zaun in ein falsches Licht zu rücken. Hamburgs Armin Veh soll ja gesagt haben, dass auf mich noch andere Zeiten zukommen werden. Er hat das aber überhaupt nicht böse gemeint, und trotzdem wurde medial versucht, uns gegeneinander auszuspielen. So etwas kostet natürlich Energie. In solchen Momenten sehne ich mich schon nach der Ruhe zurück, die ich als A-Jugendtrainer hatte. Mir ist aber auch klar, dass man als Trainer in diesen sauren Apfel beißen muss, wenn man auf höchstem Niveau arbeiten will. Und mein Anspruch ist nun mal, auf allerhöchstem Niveau zu arbeiten.

Es ist bekannt, dass Sie Ihre Taktik mit Ihren Führungsspielern absprechen. Hat es diesen Gedankenaustausch vor dem Spiel gegen den HSV schon gegeben?

Tuchel:

Nein. In der Woche war das diesmal nicht möglich, weil bei uns auch neun Nationalspieler auf Reisen waren. Wir machen das auch nicht immer, aber immer mal wieder, um zu erfahren, was die Spieler so denken.

Gab es schon mal Einwände?

Tuchel:

Wir haben ja keinen Diskussionszirkel, bei dem am Ende irgendetwas abgestimmt wird. Niemand weiß so viel über das Spiel wie der Trainer. Deswegen wird die Taktik oder ein Spielsystem auch nicht zur Wahl gestellt. Es geht lediglich darum, mit Führungsspielern über verschiedene Möglichkeiten zu sprechen, sie rechtzeitig zu informieren und ihnen damit eine gewisse Wertschätzung entgegenzubringen.

Muss man als Trainer aufpassen, eine Distanz zur Mannschaft zu wahren?

Tuchel:

Eine gewisse Distanz muss bewahrt werden. Gleichzeitig will ich so nah dran sein, dass ich schon bei der Begrüßung merke, ob der Spieler gerade ein Problem hat. Aber ich bin kein klassischer Kumpel der Spieler, auch wenn der Altersunterschied nur sehr gering ist. In der Kabine können wir auch mal gemeinsam über einen Witz lachen, aber auf Mannschaftsabenden, von denen gerade zuletzt wieder einer stattgefunden hat, habe ich nichts zu suchen.

Werden Sie geduzt oder gesiezt?

Tuchel:

Das habe ich jedem Spieler freigestellt. Autorität ergibt sich nicht aus der Ansprache. Ein André Schürrle siezt mich aufgrund des Altersunterschieds, viele andere duzen mich.

Manager Christian Heidel hat Ihnen ein Vertrag auf Lebenszeit angeboten. Wann greifen Sie zu?

Tuchel:

In meinem Verständnis habe ich ja schon zugegriffen. Das Vertrauen, das mir der ganze Verein entgegenbringt, ist natürlich ein wesentlicher Bestandteil für unseren Erfolg. Ich brauche dieses Vertrauen, um der Beste zu sein, der ich sein kann. Die Laufzeit des Vertrages ist mir dabei gar nicht so wichtig.

Als Ihnen das Amt des Cheftrainers angeboten wurde, erbaten Sie sich Bedenkzeit. Haben Sie gepokert?

Tuchel:

Ich wollte nur wissen, ob der Verein eine Übergangslösung oder tatsächlich mich und meine Ideen wollte. Als mir der Verein glaubhaft versichert hat, dass es nicht um eine Übergangslösung geht, habe ich sofort zugesagt.

Bevor Sie sich dann bei der Mannschaft vorstellten, haben Sie sich Notizen gemacht, was Sie sagen könnten. Verraten Sie, was Sie notiert hatten?

Tuchel:

Nein, das verrate ich natürlich nicht. Aber verraten kann ich, dass ich in kein Training und in keine Besprechung gehe, ohne mir Notizen gemacht zu haben. Ich will einfach sichergehen, dass ich nichts vergesse.

Haben Sie einen Karriereplan?

Tuchel:

Ich habe mir abgewöhnt, nach einem bestimmten Plan zu leben. Ich lebe und arbeite für den Moment. Und im Moment interessiert mich nur das Spiel gegen den HSV.