Der frühere HSV-Profi, der heute gegen Israel von Beginn an spielt, will bei der EM das Vize-Syndrom bekämpfen. Helfen soll ihm “Big Brother“ George.

Tourrettes. V-i-z-e. Es sind gerade mal vier Buchstaben, die Jerome Boateng das Gesicht derart verziehen lassen, dass man denken könnte, er habe gerade ein Glas Zitronensaft in einem Zug geleert. Vizemeister, Vizepokalsieger, Vize-Champions-League-Sieger. Und jetzt auch noch Vize-Europameister? "In zwei Jahren redet niemand mehr darüber, dass wir mal Zweiter geworden sind, so ist leider Fußball", sagt Bayern Münchens Abwehrallrounder, der es sich kurz vor dem gestrigen Abflug der deutschen Nationalmannschaft nach Leipzig auf der Terrasse des luxuriösen Hotels Terre Blanche im südfranzösischen Tourrettes noch einmal bequem gemacht hat. Boateng, 23, hochgegelte Haare, weißes Poloshirt, schwarze Trainingshose, will nicht lange um den heißen Brei herumreden: "Wenn wir bei der Europameisterschaft Zweiter werden, dann wird keine Zeitung schreiben: Superturnier!"

Es ist gerade mal zwölf Tage her, als Boateng auf die brutalstmögliche Art und Weise erfahren musste, wie es sich anfühlt, Teil der "nur" zweitbesten Mannschaft Europas zu sein. "Es war schon sehr schwer für uns alle, nach dem verlorenen Champions-League-Finale einen klaren Kopf zu bekommen", sagt der frühere Hamburger, der im Gespräch mit dem Abendblatt erstmals das verlorene Heimfinale gegen Chelsea ausführlich Revue passieren lässt. "Mir ging es zwei Tage lang richtig schlecht. Ich wollte nix essen, nix trinken, hatte zu nix mehr Lust." Und die Erinnerungen an den 19. Mai sind noch frisch. Elfmeter Schweinsteiger, zögernder Anlauf, Pfosten. Elfmeter Drogba, strammer Schuss, Tor. Aus. Vorbei. Boateng zuckt mit den Schultern, verschränkt die Arme vor der Brust. "Ich wollte nicht mal über das Spiel reden, aber die entscheidenden Szenen kamen immer wieder in meinem Kopf hoch."

+++ Info: Schweinsteiger fällt aus +++

Natürlich ist es kein Zufall, dass Boatengs großer Bruder George, der die "Mutter aller Niederlagen" gemeinsam mit Vater Prince Boateng live von der Tribüne aus in München verfolgt hatte, der Erste war, der versuchte, seinen kleinen Bruder wieder aufzurichten. George ist nicht nur Jérômes großer Bruder, er ist Boatengs wichtigster Ratgeber: "George hat mir gesagt, dass ich gerade jetzt stark sein und wieder aufstehen muss. Er meinte, ich soll mich nicht runterziehen lassen." Um auf andere Gedanken zu kommen, sei er schließlich in die Heimat nach Berlin gefahren, habe seine beiden Zwillingstöchter Soley und Lamia besucht ("Die beiden sind das Wichtigste in meinem Leben") und habe Schritt für Schritt gelernt, wieder Spaß im Alltag zu haben: "Ich liebe Fußball über alles, aber es gibt eben auch Wichtigeres."

+++ Seeler: "Wir gewinnen das Finale gegen Spanien" +++

Was wichtig und was nicht wichtig für Boateng ist, lässt sich in MichaelHorenis' rechtzeitig vor der EM erschienenem Buch "Die Brüder Boateng" gut nachlesen. Es ist ein Sportbuch, ein Familienroman, aber auch ein zeitgenössisches Drama, in dem neben George auch Jeromes ungleicher Halbbruder Kevin-Prince, 25, vom AC Mailand eine Hauptrolle spielt. Zwei Tage lang musste Jerome darüber nachdenken, ob er an dem Buchprojekt mitarbeiten möchte, dann sagte er zu. Kevin-Prince sagte ab. "Ich wünsche mir, dass die Leser verstehen, warum Kevin so ist, wie er ist, warum ich bin, wie ich bin, und warum mein großer Bruder George ist, wie er ist", sagt Boateng, für den es wenig überraschend kam, dass Kevin-Prince seine Mitarbeit verweigerte: "Ich kenne ihn ja gut. Mit ihm wäre das Buch sicher noch besser geworden, aber so ist nun mal seine Entscheidung."

Anders als vor zwei Jahren, als bei der WM in Südafrika Jerome mit Deutschland im viel beachteten Bruderduell in der Vorrunde auf Kevin-Prince mit Ghana traf, sind die Verhältnisse in der Boateng-Familie vor der EM in Polen und der Ukraine kein großes Thema mehr - zur Freude Boatengs. "Mir ist wichtig, dass wir nicht immer so abgestempelt werden. Früher wurden wir immer in einen Pott geworfen", sagt der gebürtige Berliner, der sich noch gut an eine Episode aus seiner Zeit als HSV-Profi erinnert: "Wenn Kevin Ärger hatte und ich zufälligerweise eine Woche später im Training beim HSV mit Albert Streit aneinandergeriet, dann hieß es sofort: die Getto-Kids."

Boateng könnte auch auf der linken Abwehrseite zum Einsatz kommen

Mit diesem Klischee soll durch das Brüder-Buch nun endlich Schluss sein. Statt über Wedding, wo George und Kevin-Prince aufwuchsen, Wilmersdorf, wo Jerome groß wurde, und die Welten, die dazwischenliegen, will Boateng viel lieber über die bevorstehende EM reden, bei der er eine tragende Rolle übernehmen soll. Bei der heutigen Generalprobe gegen Israel in Leipzig (20.30 Uhr/ARD und im Liveticker bei abendblatt.de) soll der Turnschuhsammler, der mehr als 500 Paar Schuhe sein Eigen nennt, von Beginn an verteidigen.

Dass der gelernte Innenverteidiger, den die "Süddeutsche Zeitung" mal zum "weltbesten Innenverteidiger, der nie Innenverteidiger spielt", kürte, erneut auf der rechten Abwehrseite aushelfen muss, hat Boateng akzeptiert: "Am liebsten würde ich innen spielen. Aber ich weiß auch, dass das schwer wird, weil wir viele gute Innenverteidiger haben, die aber nicht außen spielen können." Ob er bei der EM also rechts (gegen Portugals Ronaldo), links (gegen Hollands Robben) oder zentral (gegen Dänemarks Bendtner) spiele, sei ihm im Endeffekt egal, "Hauptsache, ich spiele" - und noch viel wichtiger: Hauptsache, das Vize-Trauma lässt sich überwinden. "Wenn wir wieder wie 2008 das Finale verlieren, dann heißt es, die Deutschen können keine Titel mehr holen", sagt Boateng, der den festen Willen hat, genau dies zu verhindern. Bis Freitag muss er DFB-Manager Oliver Bierhoff noch mitteilen, für welche EM-Spiele er Karten für Familie oder Freunde haben wolle. Bruder George, davon geht Boateng aus, dürfte bei allen Spielen dabei sein - gerne auch am 1. Juli, wenn Deutschland auf den kommenden Vize-Europameister trifft.