Hand vor den Mund! Bei der WM in Brasilien twittern Lippenleser, was sie bei Spielern und Trainern „abhören“. Ein Hamburger Experte erklärt die Grenzen des Lippenlesens.

Beim Niesen gehört die Hand vor Mund und Nase! Beim Gähnen ebenso. Neuerdings auch beim Sprechen auf dem Fußballplatz. Dieser Trend bei der Weltmeisterschaft ist eigentlich nicht neu. Wenn Neymar zum Freistoß trippelt, hat er vorher mit Mannschaftskollegen beraten: Hau’ ich ihn oben oder unten rein? Immer geht dabei eine Hand vor den Mund, damit 42 Kameras nicht aus allen Perspektiven für die Milliarden Lippenleser an den TV-Geräten weltweit den Dialog offenbaren.

Spieler, Trainer und Betreuer fürchten in Brasilien ängstlich wie nie, dass sie „abgehört“ werden. Das spanische Fernsehen soll professionelle Lippenleser beschäftigen. In Deutschland twittert die charmante Julia Probst, was sie den Spielern von den Lippen abliest. „Das ist so kacke“, soll Joachim Löw im Spiel gegen die USA gerufen haben.

Die Angst vor den Lippenlesern trägt hysterische Züge. Denn was kann man herausfinden – und wer will das wissen? Die 28 Millionen Deutschen (ohne Public Viewing), die Joachim Löw auch schon beim Nasebohren zugesehen haben? Was können sie durch professionelle Lippenleser erfahren? Dass er auf der Bank zu Hansi Flick sagt „Haste mal ‘n Tempo?“ und der zu Mesut Özil aufs Feld ruft „Mach mal ’n bisschen Tempo!“

Und wer versteht schon den nordostchilenischen Akzent, den Arturo Vidal daherplapperte: „Ey du, Schiri, Schwalbe.“ Experten wie Simon Kollien vom Institut für Gebärdensprache der Uni Hamburg sagen: Nur 40 Prozent aller Mundbewegungen können äußerlich gesehen werden. „Der Rest der Sprache wird im hinteren unsichtbaren Mundbereich gebildet.“ Ihm ist der Mythos Lippenlesen ein Rätsel. „Berühmte Beispiele für Verwechslungen beim Ablesen sind Mutter oder Butter oder Puder.“ Lippenleser hätten Schwierigkeiten, wenn jemand sagt „Hol’ mir mal die Mutter/Puder/Butter.“

Wie immer sind an dieser Stelle ARD und ZDF zu loben. Sie blenden für Gehörlose Untertitel ein. Das bietet Teilhabe in bestem Sinne. Und einen abgespeckten O-Ton von Bela Rethy nachzulesen, anstatt mithören zu müssen, wirft ein milderes Licht auf einen ungelenken Kommunikator.