Doha. Der Rekord-Weltmeister hat das schöne Spiel wiederentdeckt. Trainer Tite aber legt auch großen Wert auf das Verteidigen.

Die Digitaluhr in dem kleinen Raum im Stadion 974 in Doha verriet, dass der nächste Tag längst angebrochen war, als Trainer Tite die Vorwürfe von alleine ansprach, die an die brasilianische Mannschaft nach dem rauschhaften 4:1-Erfolg über Südkorea herangetragen wurden. „Einige meinen, dass unsere Tänze respektlos seien“, sagte Tite, „das sind sie nicht. Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Das ist Ausdruck der Freude.“

Nach jedem Tor hatten die Brasilianer auf dem Rasen ihren Hüften bewegt, nach dem dritten Treffer von Richarlison beteiligte sich sogar Trainer Tite an der Aufführung. „Ich versuche, mich der Sprache der Spieler anzupassen“, meinte dieser und erzählte, dass er in der Kabine versucht habe, Richarlison nachzuahmen. „Das war verteufelt schwer, aber ich habe ihm versprochen: ,Wenn du ein Tor schießt, tanze ich mit dir.‘“ Gesagt, getan. Zehn verschiedene Tänze hätten sie einstudiert, verriet Außenstürmer Raphinha. Es müssten also noch ein paar Varianten übrig sein für das Viertelfinale am Freitag (16 Uhr deutscher Zeit) gegen Kroatien.

Die Offensive malte "Joga Bonito" auf den Rasen

„Joga Bonito“ wird als Begriff verwendet, um das schöne Spiel zu beschreiben, mit dem Brasilien verbunden wird. In Wahrheit aber arbeiteten die gelben Trikots bei den vergangenen Weltmeisterschaften mehr, als dass sie zauberten. Der Druck schien zu hemmen, die Erwartungen schienen zu bremsen. Die Liebe zum eigenen Land kratzt wie beim Rivalen Argentinien immer ein wenig an der Toxizität. Am deutlichsten wurde dies beim 1:7-Untergang 2014 gegen Deutschland, als die Brasilianer vor ihren eigenen Fans zerbrachen und sich das Maracana in Rio mit Tränen füllte.

podcast-image

Nun wirkt es so, als hätten die Spieler einen Weg gefunden, ihr Talent und ihre Emotionen in die richtigen Bahnen zu lenken. Am Montag malte die Offensive „Joga Bonito“-Gemälde auf den Rasen. Vinicius Junior und Raphinha paarten ein atemberaubendes Tempo mit schnellen Richtungswechseln. Stürmer Richarlison vereinte Wucht und Technik. Und auch Neymar konnte nach seiner Bänderverletzung gegen Südkorea wieder mithelfen. Der Star lenkte eher als herauszustechen, verwandelte zudem einen Elfmeter fast unverschämt lässig. „Ich habe keine Schmerzen mehr verspürt und bin froh, gut gespielt zu haben“, sagte der 30-Jährige. „Alle haben überzeugt, aber wir müssen als Mannschaft weiter wachsen.“

Neymar wirkt in Katar reifer

Neymar wirkt in Katar reifer, früher machte sich der Druck, der bei jeder WM auf dem Star lastet, dadurch bemerkbar, dass er sich nach Berührungen seiner Gegenspieler theatralisch auf dem Rasen kugelte. Schauspieleinlagen hat er nahezu abgelegt, viel mehr bemüht er sich, die jüngeren Dribbler um ihn herum anzuleiten. „Neymars Stärke ist seine Technik, durch die kann er eine Führungsrolle übernehmen”, sagte Trainer Tite.

Allerdings möchte Brasilien mehr als nur tanzen können. Am wichtigsten sei die Balance innerhalb der Mannschaft, erklärte Tite. „Wenn wir den Ball nicht haben, müssen alle beim Verteidigen mithelfen.“ Die Techniker sollen kämpfen.

Brasilien hat alle 26 Mann im Kader bereits spielen lassen

Immer gelang dies gegen Südkorea nicht, wobei Brasilien schon nach 35 Minuten mit vier Toren Unterschied führte und es anschließend deutlich entspannter angehen lassen konnte. Tite nutzte sogar die Gelegenheit, den dritten Torhüter Wéverton für Alisson einzuwechseln. Alle Spieler im Kader haben nun bereits Einsatzzeit gesammelt, der Stimmung im Kader dürfte dies dienlich sein. Zuvor zeigte Alisson auf der Linie, warum ihn einige als besten Torhüter der Welt bezeichnen. Lange ließ der 30-jährige Torhüter vom FC Liverpool die Südkoreaner verzweifeln, hielt mit der rechten Hand, mit der Schulter, mit den Füßen. Die Innenverteidiger Marquinhos und Thiago Silva verleihen dem brasilianischen Spiel zusätzlich Härte, auf der Sechs räumt Casemiro auf. Gemeinsam bilden sie ein Rückgrat, das es bei der wilden Offensive braucht.

Der DFB trennt sich von Oliver Bierhoff: Alle News dazu lesen Sie hier

Nun möchte Kroatien die Brasilianer im Viertelfinale aufhalten. Der Vizeweltmeister ist in Katar weit entfernt vom Glanz des kommenden Gegners, gegen Japan setzten sich die Kroaten mit 4:2 nach dem Elfmeterschießen durch. „Es ist kein Fifty-Fifty-Spiel, aber wir sind auch keine Außenseiter“, sagte Trainer Zlatko Dalic. „Realistisch gesehen ist Brasilien die stärkste Nationalmannschaft bei dieser Weltmeisterschaft. Wenn man sich die Auswahl an Spielern, die Qualität, die Breite im Kader und die Marktwerte der Spieler ansieht, ist das erschreckend.“ Doch seine Mannschaft habe nichts zu befürchten, meinte Dalic. „Wir müssen mit viel Vertrauen und Selbstvertrauen ins Spiel gehen, Spaß am Fußball haben.“

Brasilien will für Pelé Weltmeister werden

Über allem schwebt dabei die Frage nach dem Gesundheitszustand der brasilianischen Fußball-Legende Pelé. Der 82-Jährige ist an Krebs erkrankt, die Chemotherapie soll laut Berichten nicht mehr anschlagen. Am Montag meldete sich der einstige Stürmer allerdings in den Sozialen Medien und teilte mit, dass er das Spiel der Nationalmannschaft verfolge. Die Spieler entrollten nach dem Schlusspfiff ein Banner, auf dem der Name und ein Bild des Idols abgebildet waren. „Ich hoffe, dass wir ihn mit dem Sieg und der Widmung ein bisschen aufmuntern konnten“, sagte Neymar. „Wir werden für ihn Weltmeister“, versprach Vinicius Junior.

„Sie haben meinem Tag Freude gegeben“, ließ Pelé anschließend verbreiten. Einst sorgte der Angreifer durch seine Vorstellungen auf dem Platz dafür, dass der Begriff „Joga Bonito“ Berühmtheit erlangte. Jetzt befinden sich seine Erben auf dem Weg, dass schöne Spiel wiederzuentdecken und gleichzeitig erfolgreich zu sein.