Lusail. Saudi Arabien gelingt mit dem 2:1 gegen Argentinien eine Sensation. Dem unvollendeten Superstar droht nun sogar das WM-Vorrunden-Aus.

Auf der saudi-arabischen Bank schlugen sie schon vor dem Schlusspfiff ungläubig die Hände über dem Kopf zusammen. Auf den Rängen tobten die Zuschauer, wie schon das ganze Spiel. Dass es laut und stimmungsvoll werden würde, war vorher abzusehen: Katars Nachbar Saudi-Arabien, unterstützt von zehntausenden Fans, traf auf Argentinien, das an diesem Dienstagmittag eine ähnlich starke Kolonie unter den 88.012 Besuchern in der abgekühlten WM-Finalarena Lusail stellte. Was hingegen nicht abzusehen war, beim besten Willen nicht: der Spielausgang.

Viertelstunde Nachspielzeit

Denn nach fast einer Viertelstunde Nachspielzeit war tatsächlich Schluss. Die Saudis rannten von Sinnen über den Platz. Lionel Messi stand erstarrt da. 2:1 gewannen die krassen Außenseiter aus Arabien gegen den seit 36 Spielen ungeschlagenen WM-Mitfavoriten. Ungeschlagen, bis die Saudis kamen: Lusail erlebte eine der größten Sensationen der Turniergeschichte, auf einer Stufe mit Englands Pleite gegen die USA 1950, Italiens Aus gegen Nordkorea 1966, Deutschlands Auftaktniederlage 1982 gegen Algerien oder jener von Argentinien selbst 1990 gegen Kamerun.

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„Alle Sterne am Himmel haben sich heute für uns aufgereiht“, sagte Hervé Renard, der französische Trainer der Saudis, der bei der vergangenen WM die Marokkaner betreut hatte und schon damals mit einer mutigen Underdog-Taktik überzeugte. „So ist der Fußball: Manchmal ist er komplett verrückt.“

Messi trifft zum 1:0

Ja, manchmal ist er komplett verrückt. Dieser Mittag in Lusail nämlich, der war ja eigentlich für Lionel Messi reserviert, der sich bei seiner letzten WM doch noch zum Weltmeister krönen will. Als er dem Publikum angekündigt wurde, gab es die bisher wohl lauteste Ovation des Turniers. Schon in der zweiten Minute hätte er beinahe getroffen und in der zehnten verwandelte er einen Elfmeter so lässig zur argentinischen Führung, als schwebe er nun auch endlich mal bei einer WM in eigenen Sphären. Doch als es ernst wurde, hieß der Messi des Nachmittags: Salem Al-Dawsari.

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Die Nummer 10 der Saudis ist 31 Jahre alt und steht bei Al-Hilal aus der Hauptstadt Riad unter Vertrag. Den besonders Kundigen mochte er ein Begriff sein, weil er 2018 an einem skurrilen Austauschprogramm mit der spanischen Liga teilnahm und für den dortigen Erstligisten Villarreal einen Ligaeinsatz absolvieren durfte. Dann verschwand Al-Dawsari wieder vom Radar des Weltfußballs – bis er sich nach monatelanger WM-Geheimvorbereitung seiner Mannschaft in der 53. Minute auf engem Raum und bedrängt von mehreren Verteidigern gekonnt um die eigene Achse drehte und den Ball ins lange Eck schlenzte.

 Saudi Arabiens Al-Dawsari (oben) führt beim Jubel über sein Siegtor Kunststücke auf.
Saudi Arabiens Al-Dawsari (oben) führt beim Jubel über sein Siegtor Kunststücke auf. © Getty | Getty

Es war ein Tor, wie es selbst in Messis Pantheon einen prominenten Platz einnehmen würde. Und es war das Siegtor, nachdem vier Minuten zuvor Saleh Al-Shehri nach beherztem Alleingang den Ausgleich erzielt hatte.

„Die Partie entglitt uns innerhalb von Nichts“, haderte Argentiniens fassungsloser Trainer Lionel Scaloni später. Hatten in der ersten Halbzeit nur drei knappe Abseitsentscheidungen die Vorentscheidung verhindert, brachte seine Elf nach dem Rückstand nicht mehr viel zustande.

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Die Saudis, die bis zu ihrer Führung noch mit tollkühn hoher Abwehrlinie verteidigten, zeigten ähnliche Gewandtheit beim Verbarrikadieren ihres Strafraums. Derweil ihre Fans mit ihrer leidenschaftlichen Unterstützung den mauen Eindruck pulverisierten, den die katarischen Zuschauer beim Eröffnungsspiel hinterlassen hatten. Nur wenige trugen traditionelles Gewand, fast alle das grüne Trikot ihrer Elf, und früher nach Hause ging sowieso niemand. Es wurde schließlich ein Kapitel Fußballgeschichte geschrieben.

Argentinien droht WM-Aus

Für Argentinien hinterließ es unangenehme Erkenntnisse. Schon kurz vor der Halbzeit, als man noch führte, kam es zu erhitzen Diskussionen zwischen Messi und Mittelfeldspieler Leandro Paredes über das unzureichende Passspiel. Nach dem Rückstand verfiel Messi dann selbst in Muster, die schon als überwunden galten. Zunehmend hängender Kopf, fast schon paralysierte Körpersprache, die Handlungsschnelligkeit aus der Anfangsphase wie weggeblasen. Dennoch sorgte er mit einer Vorlage auf Di María in der 72. Minute noch für die gefährlichste Szene bei Argentiniens verhinderter Aufholjagd.

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Die muss nun unbedingt am Samstag gegen Mexiko und am Mittwoch kommender Woche gegen Polen erfolgen – sonst droht Argentinien das Vorrunden-Aus. „Uns bleibt nichts, als wieder aufzustehen“, bemühte Scaloni in quasi jeder Antwort eine altbekannte Phrase. Sonderlich überzeugt von ihrem Inhalt wirkte er an Argentiniens schwarzem Dienstagmittag noch nicht.