Al-Chaur. Die WM in Katar hat am Sonntag begonnen. Wer hinter die Fassade des Turniers blickt, sieht die Schattenseiten des Landes. Ein Ortsbesuch.

Betrachtete man nur die Fassade, dann konnte man die pompöse Eröffnungsfeier der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 genießen. Eine Videoprojektion ließ auf dem Rasen blauen und roten Rauch erscheinen, 800 Tänzer und Tänzerinnen bewegten sich darüber. Hollywood-Star Morgan Freeman (85) trat überraschend auf, der südkoreanische Popsänger Jung Kook, eher jüngeren Menschen bekannt, präsentierte sein neues Lied. Ein Feuerwerk erleuchtete den Himmel über dem neu errichteten Bau in Al-Chaur.

Wie ein Fels erhebt sich das Al-Bayt-Stadion in der Wüste, von außen soll es an ein traditionelles Zelt der Nomaden erinnern. Ins Innere passen 60.000 Fans. Gianni Infantino, Präsident des Weltfußballverbandes, saß am Sonntag neben Tamim bin Hamad Al Thani, dem Emir vom Katar. Am Ende der Zeremonie eröffnete das Staatsoberhaupt des Gastgeberlandes das Turnier offiziell auf Arabisch und hieß zum Schluss auf Englisch die Welt willkommen.

Der Glanz in Katar hat immer eine Schattenseite

Hinter der Fassade aber tun sich Abgründe auf. Die Gastarbeiter, die hier in der Hitze beim Bau des Eröffnungsstadions hatten schuften müssen, waren in Baracken gequetscht worden, hatten wenig Lohn erhalten. Der Glanz hat in Katar immer eine Schattenseite. Reich und Arm prallen aufeinander. Unterschiedliche Weltanschauungen geraten aneinander. So rückt das große Turnier all die Widersprüche, all die Ungerechtigkeit dieser Welt in den Fokus und löst gleichzeitig eine Diskussion aus, wie man damit umgehen sollte. Wegsehen oder Ansprechen? Akzeptieren oder Verändern?

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Allen voran zettelte ausgerechnet Gianni Infantino, anstatt zu vermitteln, einen Kulturkampf an, in den auch der Deutsche Fußball-Bund geraten ist. Wie ein Rammbock ließ der Schweizer bei seiner bemerkenswerten Rede einen Tag vor dem Turnierbeginn jegliche Kritik an sich abprallen, er warf Europa stattdessen eine „Doppelmoral“ vor, rückte an die Seite des Gastgeberlandes Katar. Die Fifa, das wird mittlerweile deutlich, ist gewillt, jegliche Zeichen, die als Kritik an der Menschenrechtslage in dem konservativ muslimischen Emirat verstanden werden können, wegzudrücken.

One-Love-Armbinde ist zum Politikum geworden

Dänemark etwa stellte den Antrag, während des Turniers in Shirts mit der Aufschrift „Menschenrechte für alle“ zu trainieren. Der Weltverband untersagte das als „politische Botschaft“. Zu einem weiteren Streit könnte die „One Love“-Aktion, ein Zeichen für Vielfalt, mehrerer europäischer Verbände führen. Auch Deutschlands Kapitän Manuel Neuer möchte eine Kapitänsbinde mit dieser Botschaft in dem Land tragen, in dem Homosexualität unter Strafe steht.

Die One-Love-Armbinde von Manuel Neuer.
Die One-Love-Armbinde von Manuel Neuer. © dpa

Um dies verhindern, hat die Fifa spontan eine eigene Aktion ins Leben gerufen. „#FootballUnitesTheWorld“, Fußball verbindet die Welt, lautet das Signal, das nun am Arm zu sehen sein soll. Neuer will trotzdem die „One Love“-Binde tragen, der DFB unterstützt ihn. Die Konsequenzen? Unklar. Ein erster Test wird das Spiel der englischen Mannschaft gegen den Iran an diesem Montag (14 Uhr) sein. Englands Kapitän Harry Kane plant wie Neuer, die Aktion beizubehalten. Frankreichs Spielführer Hugo Lloris hat sich stattdessen entschlossen, aus Respekt vor dem Gastgeberland auf die Binde zu verzichten. Wegsehen oder Ansprechen?

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Gianni Infantino verfolgte die Strategie, selbst Anschuldigungen zu erheben, anstatt sich mit den Vorwürfen zu beschäftigen. „Ich denke, was wir Europäer in den vergangenen 3000 Jahren weltweit gemacht haben, da sollten wir uns die nächsten 3000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, moralische Ratschläge an andere zu verteilen“, sagte der 52-jährige Schweizer. Katar gebe den Arbeitsmigranten Hoffnung, mache Fortschritte. Und der Fifa-Präsident versprach, dass jeder, egal welche Sexualität er habe, willkommen sei.

Amnesty International reagierte empört. „Rufe nach Gleichbehandlung, Menschenwürde und Kompensation können nicht als eine Art von Kulturkrieg bezeichnet werden – sie sind unverhandelbare Menschenrechte, denen sich auch die Fifa verpflichtet hat“, teilte die Menschenrechts-Organisation mit.

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Aber, es gibt bei der WM der Widersprüche natürlich Menschen, die Freude haben. Man findet sie etwa auf dem offiziellen Fanfest in Doha, am Meer gelegen, im Hintergrund ragen die Hochhäuser der Stadt in die Luft. Hier darf Bier ausgeschenkt werden, in der Nähe der Stadien nicht mehr. Vor allem südamerikanische Trikots erblickt man. Brasilien. Argentinien. Mexiko. Länder, in denen die Weltmeisterschaft unkritischer behandelt wird. Eine große Fast-Food-Kette bietet in Brasilien sogar den „MC Qatar“ an, während in Deutschland viele Unternehmen möglichst nichts mit dem Turnier zu tun haben wollen.

In Katar gibt es Dienstleistungen im Überfluss

Auf den breiten Straßen Dohas rasen gelegentlich Geländewagen vorbei, an die Katarer große weiß-rote Landesfahnen montiert haben. Vieles funkelt neu wie die Metro, nur zeigt sich schon jetzt, dass die Menschenmassen die Stadt an ihre Grenzen bringen könnten. Um dem vorzubeugen, stehen überall Gastarbeiter als Helfer, sie zeigen Fans den Weg, beantworten Fragen. In einem Land, in dem Arbeitskraft kaum etwas kostet, gibt es Dienstleistungen im Überfluss. Spricht man mit den Einwanderern, viele wurde in Afrika angeworben, berichten sie, dass sie aus Gegenden kommen, in denen ihre Lage wesentlich prekärer sei.

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„Doha ist bereit, Katar ist bereit. Natürlich wird es die beste WM aller Zeiten“, sagte Gianni Infantino vor dem Start. „Sobald der Ball rollt, konzentrieren sich die Leute darauf. Weil es das ist, was sie wollen, das ist der Zauber des Fußballs.“ Akzeptieren oder Verändern?

Draußen vor dem großen Al-Bayt-Stadion konnten die Fans am Sonntag auch einen kleinen Teich entdecken. Fontänen spritzten darin in die Luft, Bäume spendeten daneben Schatten, einige Enten schwammen umher. Eine Oase in der Wüste? Alles nur Fassade.