Hamburg. Pioniergeist: Dilar Kisikyol, Beauftragte für Frauen und Inklusion im Hamburger Verband, hat ein interessantes Projekt gestartet.

Die Wissenschaft ist uneins. Ob das Boxen als Wettkampfsport die Entstehung von Morbus Parkinson fördert oder nicht, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. Nur eine einzige Meinung bekommt dagegen zu hören, wer mittwochmittags die Gruppe besucht, die in der Trainingshalle des Hamburger Amateurboxverbands (HABV) schuftet. Der Faustkampf als Fitnesssport hilft von der als Schüttellähmung bekannten Erkrankung des zentralen Nervensystems Betroffenen, mit deren Folgen besser zurechtzukommen.

Sieben Frauen im Alter von 51 bis 72 Jahren nutzen seit einigen Wochen das Angebot, das Dilar Kisikyol auf den Weg gebracht hat. Die Tochter türkischer Eltern mit kurdischen Wurzeln ist im HABV seit November ehrenamtlich als Beauftragte für Frauen und Inklusion engagiert, und weil sie vor Ehrgeiz und Ideenreichtum sprüht, hat sie nach Wegen gesucht, beides zusammenzuführen.

Amateurboxverband Hamburg: Boxen hilft Parkinson-Patienten

Der Boxkurs für Frauen mit Parkinson, initiiert nach einer Anfrage zweier Teilnehmerinnen beim Hamburger Sportbund, der sich daraufhin an den HABV und Kisikyol wandte, ist das erste Produkt dieser Suche. Wer als Beobachter die 60-minütige Einheit miterlebt, der bekommt nicht nur sofort Lust, selbst die Handschuhe überzustreifen, sondern kann die Begeisterung fast greifen, mit der die Damen ans Werk gehen.

„Ich bin jedes Mal total happy, welche Lebensfreude das Boxen mir vermittelt“, sagt Iris, die wie die anderen Frauen auch ihren Nachnamen für sich behalten möchte. Die körperlichen Voraussetzungen in der Gruppe sind sehr unterschiedlich, manche haben die Diagnose ihres Leidens schon vor 16 Jahren erhalten, andere erst vor Kurzem. Für Dilar Kisikyol bedeutet das, sich auf eine große Bandbreite an Fähigkeiten und Einschränkungen einzustellen und dennoch alle einzubinden. „Wie ihr das gelingt und wie sie uns antreibt und motiviert, das ist toll. Es ist ein Privileg, so eine Trainerin zu haben“, lobt Doris.

Menschen mit Parkinson: Bewegung ist das Zauberwort

Parkinson äußert sich in erster Linie in Bewegungsstörungen. Die Patientinnen verlangsamen, leiden unter dem typischen Zittern, versteiften Muskeln und einer instabilen Körperhaltung. Genau diese Symptome lindert aber das Boxtraining, weil es die Koordinationsfähigkeit verbessert. „Ich brauche einen Moment, um in die Bewegungsabläufe hineinzufinden, aber dann verbessert sich meine Koordination deutlich“, sagt Ute. Bettina hat festgestellt, dass sich ihre kognitiven Fähigkeiten durch das Boxtraining verbessert haben. „Auf Abruf die richtigen Bewegungen zu machen ist sehr fordernd, aber tut unheimlich gut!“

Bewegung – das Zauberwort, gerade für Menschen mit Parkinson. „Ich habe lange unter dem Restless-Legs-Syndrom gelitten. Wenn ich mich bewege, sind die Schmerzen deutlich gelindert“, sagt Gisela. Die 72-Jährige ist die Älteste in der Gruppe, sie spielt auch noch Tischtennis. Auch die anderen Damen haben verschiedene Sportarten ausprobiert, aber in ihrer Boxgruppe haben sie das gefunden, was sie gesucht haben: einen Sport, der ihnen allen guttut, unter Gleichgesinnten – und der sogar hilft, Vorurteile abzubauen. „Boxen, das war für mich früher der absolute Idiotensport“, sagt Ute, „aber jetzt, wo ich weiß, was dahintersteckt, finde ich es richtig gut.“

Bald Boxsport für Menschen im Rollstuhl?

Dilar Kisikyol strahlt, wenn sie solche Sätze hört. Die 30-Jährige ist seit 2019 Profiboxerin, ihre bislang fünf Kämpfe hat sie alle gewonnen. Vor Kurzem ist sie vom Hamburger Universum-Stall zu Christian Morales gewechselt, der beim HABV als leitender Landestrainer angestellt ist, aber auch mit Profis wie dem deutschen Schwergewichtsmeister Peter Kadiru (24) trainiert. Boxen ist für Kisikyol viel mehr als der Zweikampf im Ring. „Boxen ist wie das Leben, du kämpfst, gehst mal zu Boden, stehst wieder auf und machst weiter, bis du deine Ziele erreicht hast“, sagt sie. Die gebürtige Leverkusenerin hatte ex­trem früh gelernt zu kämpfen, als Dritte eines Drillingspärchens kam sie mit nur 1500 Gramm Gewicht zur Welt. „Das prägt“, sagt sie und lacht.

Prägen will die Wahlhamburgerin, die in Düsseldorf soziale Arbeit und Sozialpädagogik studierte und im August 2019 nach Hamburg zog, mit ihren Ideen auch weiterhin ihr Amt im HABV. Das Einzeltraining mit einem Jungen mit Downsyndrom will sie gern auf ein Gruppenevent ausbauen. Auch die Parkinson-Gruppe würde sie gern erweitern, allerdings nicht auf mehr als zehn Personen. Ein Angebot für männliche Parkinson-Erkrankte sei ebenfalls denkbar. „Ich möchte den Boxsport für alle zugänglich machen. Sogar Menschen, die im Rollstuhl sitzen, können auf sie angepasste Übungen machen. Mein Pioniergeist ist groß, und mir geht es um Werte wie Ehrgeiz, Disziplin, Fairness und Beharrlichkeit, die das Boxen uns lehren kann“, sagt sie.

„Hier gibt es keine Samthandschuhe“

Dass es in der Boxhalle direkt und manchmal auch derb zugeht, das haben die sieben Frauen aus der Parkinson-Gruppe schnell gelernt. Und sie lieben es! „Dilar macht uns richtig Feuer. Hier gibt es keine Samthandschuhe“, sagt Bettina – und hat damit doppelt recht. Samthandschuhe bringen im Boxen schließlich niemanden weiter.