Hamburg. 2017 wurde Charr mit zwei künstlichen Hüften Schwergewichtsweltmeister. Seitdem hat er nicht geboxt. Nun kehrt er zurück.

Er ist ein Mensch, der es liebt, sich der Welt mitzuteilen. Wer also in den vergangenen Monaten verfolgte, was Mahmoud Charr in den sozialen Netzwerken zu verkünden hatte, der sah viele Bilder eines hart arbeitenden Mannes. Eines Mannes, der auf dem Fahrradergometer schwitzte oder beim Joggen am Rhein. Der sich im Sparring durchboxte oder am Sandsack. Und der all diese Bilder stets mit den passenden Worten garnierte, weil er für jeden Schritt auf seinem Lebensweg einen Kalenderspruch oder ein Leitmotiv parat hat.

Was man nicht sah seit nunmehr dreieinhalb Jahren: Mahmoud Charr bei der Ausübung seines Hauptberufs mittels eines Kampfes. Denn auch wenn der 36-Jährige auf die Frage, was er in einem Lebenslauf in die Zeile „Erlernter Beruf“ eintragen würde, gern antwortet, er sei „ein Stern, der am Himmel leuchtet“, ist es doch das Berufsboxen, das ihn bekannt gemacht hat.

Boxer Mahmoud Charr: „Emotional bin ich gespalten“

Man darf also sagen, dass am Sonnabend (22.10 Uhr/bild.de) eine Leidenszeit endet. In seiner Heimatstadt steigt der selbst ernannte „Koloss von Köln“ für einen Zehn-Runden-Kampf gegen den in 19 Kämpfen unbesiegten US-Amerikaner Christopher Lovejoy (37) in den Ring. Es ist sein 36. Profikampf – und der erste, seit er im November 2017 WBA-Weltmeister im Schwergewicht geworden war.

Kein Wunder also, dass die Anspannung vor dem Comeback hoch ist bei dem im Libanon geborenen Syrer. „Emotional bin ich gespalten“, sagt er im Gespräch mit dem Abendblatt, „auf der einen Seite bin ich extrem glücklich, dass ich endlich wieder boxen kann.“ Auf der anderen Seite mache er sich großen Druck, denn er wolle „nicht nur mir, sondern der ganzen Boxwelt beweisen, dass ich wieder da bin und Großes erreichen kann. Aber mein Kampfname ist Diamond Boy, und Diamanten brauchen Druck, um glänzen zu können.“

Meinungen spalten sich

Emotional gespalten, das sind seit vielen Jahren auch die Boxfans, wenn das Gespräch auf Mahmoud Charr kommt. Wer es gut mit ihm meint, sieht in ihm einen begnadeten Entertainer. Wer ihn nicht mag, hält ihn für den größten Schaumschläger unter der Sonne. Erol Ceylan, Chef des Hamburger Profiboxstalls EC Boxing und seit vergangenem Jahr Charrs Promoter, gießt die Faszination des 192 Zentimeter langen Muskelbergs verbal in adäquate Form.

„Es gibt nicht viele Boxer, die so wenig Talent haben wie Mahmoud. Aber es gibt noch viel weniger Boxer, die den Willen haben, den er hat. Wenn alle meine Boxer nur zehn Prozent seines Willens hätten, wären sie alle Weltmeister. Mahmoud gibt niemals auf, er ist ein Stehaufmann, der Prototyp eines Überlebenskünstlers“, sagt er.

Charr überlebte Bauchschuss

Wobei das Wort Überlebenskünstler wörtlich zu nehmen ist. Die erste Kugel traf Charr als Vierjährigen im libanesischen Bürgerkrieg ins Knie. Auch nach der Flucht nach Deutschland musste er jeden Tag kämpfen, um sich zu behaupten. Er überlebte schwere Schlägereien und Messerattacken, saß mehrfach in Untersuchungshaft und wurde doch freigesprochen, im Sommer 2015 schoss ihm ein Kontrahent wegen eines nichtigen Anlasses in den Bauch. Charr überstand auch das, verbannte anschließend Gewalt und Hass aus seinem Leben, vermittelte als „Friedensbotschafter“ zwischen verfeindeten Rappern oder rivalisierenden Rockergangs, verlor dabei aber nie sein Ziel aus den Augen, Weltmeister im Schwergewicht zu werden.

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Im Frühjahr 2017 schien dieser Traum jäh zu platzen, als ihm wegen angeborener Dysplasie zwei künstliche Hüftgelenke eingesetzt werden mussten. Ein halbes Jahr später besiegte er in Oberhausen den Russen Alexander Ustinov und durfte sich WBA-Weltmeister nennen. „33 Jahre lang hat mich das Leben geschlagen. Heute habe ich das Leben zurückgeschlagen“, sagte er nach seinem Triumph im Glauben, sich nun endlich aus den Fleischtöpfen des Berufsboxens bedienen zu dürfen.

Weltverband erkannte Charr Titel ab

Was folgte, waren eine Posse um seine Einbürgerung in Deutschland (aktuell hat er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und die Hoffnung, bis Jahresende den deutschen Pass zu erhalten), Probleme mit dem Finanzamt, ein positiver Dopingtest, dessen Umstände bis heute ungeklärt sind, die Corona-Pandemie – und zuletzt eine juristische Auseinandersetzung mit US-Promoterlegende Don King.

Dieser zögerte die von der WBA geforderte Titelverteidigung gegen den von ihm gemanagten Trevor Bryan so lange heraus, dass der Weltverband Charr den Titel wegen Inaktivität aberkannte und ihn zum „Champion im Wartestand“ erklärte. Was bedeutet, dass er das Recht hat, den neuen WBA-Weltmeister Bryan oder WBA-Superchampion Anthony Joshua (England) herauszufordern; ohne Gewissheit jedoch, dass er auch zum Zuge kommt.

Kampfabend in Köln ohne Zuschauer

Viele Boxer wären daran zerbrochen, Charr dachte kein einziges Mal an Aufgabe. Mit seinen Trainern Petrit Dobroschi und Sükrü Aksu arbeitete er im Sportstudio Baaden in Köln, wo am Sonnabend auch der Kampfabend ohne Zuschauer stattfindet, kontinuierlich an seiner Fitness.

Dank treuer Sponsoren, die er in Eigenregie akquirierte, konnte er sich über Wasser halten. Dazu hielt er Motivationsvorträge und leistete Integrationsarbeit in Schulen. „Mein Glaube daran, dass ich alles schaffen kann, was ich mir vornehme, ist für viele Menschen vorbildlich. Ich will nicht als ein Mann sterben, der aufgegeben hat, sondern als einer, der alles gegeben hat“, sagt er.

Zitat von Oscar Wilde als Lebensmotto

Am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut wird, ist es nicht das Ende. Das Zitat, das dem irischen Schriftsteller Oscar Wilde zugeschrieben wird, ist Mahmoud Charrs liebstes Lebensmotto. Kein Wunder also, dass er weiterhin fest davon überzeugt ist, nach dem Sieg über Lovejoy, der sich nach einer Privatinsolvenz aus dem Promotervertrag mit Don King löste und von der WBA eine Sondergenehmigung für das Duell mit Charr erhielt, spätestens 2022 gegen Superstar Joshua antreten zu dürfen.

Der Kampf wäre das passende Abschlusskapitel für seine Biografie, an der er aktuell arbeitet und die Vorlage für einen Hollywood-Film über sein Leben werden soll, in dem er selbst die Hauptrolle spielt. Kleiner geht es nicht in seiner Gedankenwelt.

Boxer Mahmoud Charr schaffte alles, was er ankündigte

„Das Verrückte an Mahmoud ist, dass er bislang alles geschafft hat, was er angekündigt hat, wie verrückt es auch war“, sagt Erol Ceylan. Und weil das stimmt, darf man gespannt sein auf die Bilder, die Mahmoud Charr in den kommenden Jahren mit der Welt teilen wird.