Hamburg. Noch im Winter drohte die Schwimmerin an den Erwartungen zu zerbrechen. Nun schwimmt sie in Tokio in der Staffel.

Im Minutentakt gingen Nachrichten ein auf ihrem Mobiltelefon, manche von Menschen, „von denen ich nicht einmal wusste, dass sie mich kennen.“ Hannah Küchler freute sich über jeden Glückwunsch, aber es waren die Worte ihrer Eltern, die sie zu Tränen rührten, als sie am Abend nach dem größten Rennen ihrer noch jungen Karriere in Berlin im Hotelbett lag und nicht einschlafen konnte, weil die Gedanken Achterbahn fuhren.

Bevor sie ins Becken gesprungen war, um sich für die Olympischen Sommerspiele in Tokio zu qualifizieren, hatte sie sich ausgemalt, wie ihre Eltern in Potsdam vor dem Livestream mitfiebern, wie sie sich in die Arme fallen würden, wenn die Tochter es wirklich schaffen würde, sich ihren sportlichen Lebenstraum zu erfüllen. „Als ich dann hörte, dass sie genau das getan hatten und wie stolz sie auf mich waren, musste ich weinen. Weil ich weiß, wie viel uns allen dieser Moment bedeutet“, sagt sie.

Olympische Spiele sind ihr Lebenstraum

Am Mittwochmittag sitzt Hannah Küchler vor dem Olympiastützpunkt in Dulsberg auf einer Parkbank in der Sonne und lässt noch einmal Revue passieren, was in den vergangenen Tagen über sie hereingebrochen ist.

Lesen Sie auch:

Wer verstehen will, warum Olympische Spiele aller Diskussionen und pandemiebedingter Widrigkeiten zum Trotz noch immer das Größte sind für Athletinnen wie die 19 Jahre alte Schwimmerin vom AMTV-FTV Hamburg, der muss die Bewegtbilder anschauen von dem Moment, als Hannah Küchler am vorvergangenen Sonnabend im 100-Meter-Freistilrennen der nationalen Olympiaqualifikation in Berlin im Ziel anschlug. Diese Ungläubigkeit in ihrem Blick, die umschlägt in pure Freude und schließlich in einen Tränenausbruch, sagt mehr, als jedes Wort es könnte.

Zuerst dachte sie, dass sie zu langsam war

„Im ersten Moment bin ich auf der Anzeigetafel in der Zeile verrutscht und dachte, dass ich zu langsam war“, sagt sie. Als ihr klar wurde, dass sie in 54,88 Sekunden nicht nur deutschen Altersklassenrekord geschwommen war, sondern auch die viertbeste Zeit und damit den Platz in der Staffel erreicht hatte, fiel der ganze Druck ab, der sich über Monate angestaut hatte. Denn dass alles so gut ausgehen würde, war für Hannah Küchler alles andere als gewiss gewesen.

Noch im Winter hatte man befürchten müssen, dass das 2017 aus Potsdam nach Hamburg gewechselte Toptalent den Erwartungen nicht würde standhalten können. Es lief im Training überhaupt nicht so, wie sie sich das vorstellte. Dazukam die Ungewissheit um die Vertragsverlängerung von Bundesstützpunkttrainer Veith Sieber, die dessen gesamte Trainingsgruppe belastete. „Ich verspürte überhaupt keinen Spaß mehr und wusste nicht, wo das hinführen sollte. Angst, Verzweiflung und Demotivation standen im Vordergrund“, sagt die Sprintspezialistin.

Mentale Extremsituation

Es war Sportpsychologin Annika Weinkopf, die Hannah Küchler den Weg aus ihrer mentalen Extremsituation wies. „Ich wollte unbedingt aus dieser Negativspirale ausbrechen, und Annika hat mir mit ihrer Art, mich in meinem Weg zu bestärken, sehr dabei geholfen“, sagt sie. „Sie hat mir vor Augen geführt, dass es nicht darum geht, was ich leisten muss, sondern was ich leisten will.“ Das letzte Gespräch führten sie direkt vor dem 100-Meter-Freistilfinale von Berlin.

Hannah Küchler hat nun einige Tage Zeit gehabt, sich emotional auf das einzustellen, was im Sommer auf sie wartet. „Aber so richtig realisieren werde ich es erst, wenn ich mit gepackten Koffern am Flughafen stehe“, sagt sie. Sie wird sich, wenn in der kommenden Woche die Impfkampagne des „Team Deutschland“ anläuft, ein Corona-Vakzin verabreichen lassen, obwohl sie anfangs ob der noch unerforschten Langzeitfolgen einer Impfung skeptisch war. „Aber ich habe mich damit beschäftigt und dafür entschieden, auf Nummer sicher zu gehen, anstatt irgendwelche Pseudo-Dramen zu schieben“, sagt sie.

Auf die EM in Budapest verzichtet Hannah Küchler

Wie der weitere Fahrplan auf dem Weg nach Japan aussieht, weiß sie noch nicht. Auf die EM in Budapest (17. bis 23. Mai) verzichtet sie, stattdessen möchte sie so lange wie irgend möglich mit ihrer Hamburger Trainingsgruppe zusammenbleiben. Als einzige aus dieser Gruppe ist sie sportlich für Tokio qualifiziert.

Die Syrerin Yusra Mardini (23), mit der Hannah Küchler in Barmbek eine WG teilt, darf im Flüchtlingsteam des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) antreten. Dass manche glaubten, sie würde ob ihres Erfolgs überheblich werden, hat sie getroffen. „Mein Selbstvertrauen ist vielleicht größer geworden, aber ich fühle mich doch jetzt nicht als etwas Besseres“, sagt sie.

Julia Mrozinski verpasste das Tokio-Ticket

Im Gegenteil: Ihr zweiter Gedanke nach dem ersten Glücksgefühl in Berlin galt ihrer Trainingspartnerin Julia Mrozinski, mit der sie eng befreundet ist, aber um den Platz in der Freistilstaffel konkurrierte. Die 21-Jährige verpasste als Sechste das Tokio-Ticket. „Wir hatten vorher im Training darüber gesprochen, dass wir beide in erster Line für uns kämpfen, aber füreinander da sind. Sie kam nach dem Rennen direkt zu mir und sagte, wie sehr sie mir die Qualifikation gönnt. Die Freundschaft siegt, und das ist für mich das wichtigste Gefühl.“

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Ein Gefühl, das ihr nun erlaubt, sich uneingeschränkt auf Olympia zu freuen, auch wenn Corona die Spiele stark beeinträchtigt. „Der sportliche und ideelle Wert bleibt der gleiche“, sagt sie. Und auf die Nachrichten, die ihre Eltern ihr nach Tokio schicken werden, freut sie sich schon jetzt.