Hamburg. Der Hamburger Profiboxer über Schockmomente seiner Kindheit, Gebete im Ring, seinen Job im Hafen und den WM-Kampf gegen Conor Benn.

Sebastian Formella ist ein Mensch, für den das Wort Frohnatur hätte erfunden werden müssen. Die 72 Stunden Hotelzimmer-Quarantäne, die der 33 Jahre alte Weltergewichts-Boxprofi aus dem Hamburger EC-Stall vor seinem Duell mit dem britischen Shootingstar Conor Benn (24) in London überstehen musste, haben ihn zwar auch genervt. Doch die Vorfreude auf den Hauptkampf, den er am Sonnabend (22 Uhr/Dazn) in der Wembley-Arena bestreiten darf, hat jeden Anflug von Negativität überlagert.

Umso größer war Formellas Verwunderung, dass das Abendblatt vor seinem zweiten internationalen Topkampf in Serie über das Thema „Ängste und Sorgen eines Boxers“ sprechen wollte. „Ich habe doch gar keine Angst“, sagte er – und gab trotzdem überraschende Antworten.

Hamburger Abendblatt: Herr Formella, Wladimir Klitschko hat einmal gesagt: Wenn ein Boxer sich Gedanken darüber machen würde, was ihm im Ring passieren kann, würde er schon den Weg in den Ring nicht schaffen. Hat er recht?

Sebastian Formella: Absolut. Wer zu viel nachdenkt über Verletzungen oder noch Schlimmeres, der wird sehr schnell mit dem Boxen aufhören.

Aber ist das nicht verrückt: Dass Sie einen Sport betreiben, der so gefährlich ist, aber darüber nicht nachdenken dürfen?

Formella: Es ist ja nicht so, dass ich es nicht dürfte. Ich tue es einfach nicht, weil es mir nichts bringt. Das Risiko, das das Boxen mit sich bringt, ist uns allen bewusst. Aber wir lieben unseren Sport, und wir machen darüber eher Witze, um besser damit umgehen zu können. Dass wir zu viel an den Kopf gekriegt haben, wenn wir etwas nicht verstehen, zum Beispiel. Aber so lange mich die Folgen einer schweren Verletzung nicht betreffen, denke ich darüber nicht nach.

Das klingt so einfach. Aber wie geht das, einfach nicht darüber nachdenken? Angst kann doch auch eine Triebfeder sein, sie ist hilfreich, weil sie einen zwingt, wachsam zu sein.

Formella: Ich würde das nicht Angst nennen, denn Angst an sich ist doch eher negativ besetzt. Ich nenne es Respekt. Ich weiß, dass jeder meiner Gegner versuchen wird, mir weh zu tun. Deshalb muss ich in der Vorbereitung alles dafür tun, dass es dazu nicht kommen wird. Ich habe schon immer vor jedem Gegner Respekt gehabt, aber auf dem Niveau, auf dem ich mittlerweile kämpfe, geht es nicht anders als mit totalem Einsatz. Und wenn ich den zeige, dann muss ich keine Angst haben, dass mir Schlimmes passiert. Wenn es doch so kommt, dann war es ein Unfall, und der kann überall passieren.

Sie haben 23 Profikämpfe bestritten, nur einen verloren, sind aber noch nie k.o. gegangen. Haben Sie keine Angst vor dem ersten Mal?

Formella: Nein, wirklich nicht. Angst habe ich eher davor, in der Vorbereitung krank zu werden oder mich zu verletzen, so dass der Kampf nicht stattfinden kann. Weil man so viel Zeit geopfert hat dafür, die dann verloren ist. Meine größte Angst ist, mich nicht mehr bewegen zu können. Eingesperrt zu sein. Wenn mich früher jemand festgehalten hat, so dass ich mich nicht mehr bewegen konnte, bin ich ausgeflippt. Die Vorstellung, lebendig begraben in einem engen Sarg zu liegen, finde ich grauenvoll, das wäre für mich viel schlimmer als Ertrinken oder irgendein Unfall. Aber all diese Gedanken lasse ich nicht an mich heran. Ich bin einfach ein positiv denkender Mensch.

Das ist beneidenswert. Haben Sie jemals ein Coaching gemacht, Mentaltraining genutzt, um das zu erlernen?

Formella: Nein, ich hatte nie das Gefühl, dass ich das brauchen würde. Ich fresse niemals etwas in mich hinein, sondern lasse alles, was mich belastet, sofort raus. Wenn ich mich über jemanden ärgere, sage ich das, und dann ist es erledigt. Wenn ich Mist gebaut habe, habe ich auch kein Problem damit, um Entschuldigung zu bitten. Man muss vergeben können, darf nicht nachtragend sein. Wobei es leichter ist, um Vergebung zu bitten als um Erlaubnis. Zum Glück habe ich ein sehr stabiles Elternhaus und eine sehr gute Beziehung zu meinen Eltern. Das hat mir auch sehr geholfen.

Ihre Mutter schaut bis heute Ihre Kämpfe nicht live, weil sie solche Angst um Sie hat. Was macht das mit Ihnen: Zu wissen, dass Ihre Mutter sich so sehr sorgt?

Formella: Klingt vielleicht hart, das so zu sagen, aber ich habe gelernt, damit umzugehen, nehme es mittlerweile mit Humor. Es heißt ja, dass Mütter die einzigen Menschen sind, die zunächst ihr Kind schützen, bevor sie an sich selbst denken. Es ist nicht so, dass mein Vater, mein Bruder, meine Freundin nicht auch in Sorge um mich wären. Aber mit Mama ist das anders. Vor Kämpfen gegen richtig starke Gegner will sie nichts darüber wissen. Sie guckt die Kämpfe erst als Aufzeichnung, wenn sie das Ergebnis kennt. Oder sie macht den Fernseher an, wenn ein Kampf live gezeigt wird, geht aus dem Raum und hört nur den Kommentar. Wenn wir dann nach dem Kampf sprechen, ist sie sehr erleichtert.

Ihr Vater dagegen hat die meisten Ihrer Amateurkämpfe selbst gefilmt. Sie haben mal erzählt, dass er sehr streng mit Ihnen sein konnte. Hatten Sie vor ihm als Kind Angst?

Formella: Gar nicht, ich hatte und habe vor keinem Menschen Angst. Vor Papa habe ich großen Respekt, er hat meinem Bruder und mir Anstand beigebracht. Meine Mutter war immer der liebe Part, er der strenge. Aber das war gut so. Wenn ich heute höre, wie manche Kinder zu ihrem Vater „Halt’s Maul“ sagen, kann ich das absolut nicht verstehen. Würde ich das zu meinem Vater sagen, dann hätte ich Angst vor seiner Reaktion. Ich finde, ich hätte dann eine harte Predigt absolut verdient.

Was war in Ihrer Kindheit das, wovor Sie sich am meisten fürchteten?

Formella: Ich mochte die Dunkelheit nicht. Wenn ich vom Spielen nach Hause kam und es schon dunkel war, dann bin ich immer gerannt, weil ich mich unsicher gefühlt habe. Und einmal, da war ich vielleicht acht oder neun, ist mein fünf Jahre jüngerer Bruder ausgebüxt. Das war an einem Sonnabendmorgen, mein Vater war zur Arbeit, und mein Bruder muss irgendwie abgehauen sein. Auf jeden Fall habe ich ihn im Schlafanzug gesucht und schließlich an einem Kiosk in unserer Straße gefunden. Das war ein richtiger Schockmoment! Überhaupt mache ich mir um meine Familie und meine Freunde viel größere Sorgen als um mich selbst. Ich bin mit meinen Eltern früher jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Noch heute bete ich für sie. Und vor Kämpfen im Ring bete ich das Vaterunser für mich, damit der liebe Gott mich beschützt.

Sie haben, anders als viele Profiboxer, einen Hauptberuf, arbeiten als Containerfahrer im Hamburger Hafen. Tun Sie das nicht auch, weil Sie Angst davor haben, dass die Karriere im Boxen schnell vorbei sein kann?

Formella: Da spielt sicher eine gewisse Angst mit. Aber ich würde dafür eher den Begriff Sicherheitsdenken wählen. Wenn ich zum Beispiel eine schwere Knieverletzung erleide, die meine Karriere beendet, dann habe ich immer noch meinen Job im Hafen und muss nicht um meine Existenz bangen. Ich habe das doch gerade während der Corona-Zeit gesehen, wie wichtig es ist, ein zweites Standbein zu haben. Wenn du auf einmal nicht mehr boxen kannst, muss ja trotzdem Essen auf den Tisch kommen. Deshalb sichere ich mir auf mehreren Ebenen meinen Lebensunterhalt.

Als Containerfahrer hantieren Sie mit Inhalten, die Millionen wert sein können. Haben Sie da manchmal Angst, etwas kaputt zu machen?

Formella: Materielle Schäden bereiten mir keine Sorgen, das kann man alles ersetzen. Wovor ich aber tatsächlich große Angst habe ist, einen anderen Menschen zu verletzen oder sogar zu töten, sei es bei der Arbeit im Hafen oder im Ring. So etwas will ich nicht erleben. Deshalb bin ich auf der Containerbrücke immer besonders vorsichtig.

Auch wenn Sie meist fröhlich, positiv und unbeschwert wirken: Irgendetwas bringt doch jeden Menschen aus der Ruhe. Was ist das bei Ihnen?

Formella: Unpünktlichkeit, weil ich finde, dass das respektlos gegenüber anderen Menschen ist. Unzuverlässigkeit, denn ein Wort ist ein Wort, an das man sich zu halten hat. Und ich hasse Illoyalität und Lügen. Niemand soll andere betrügen, jeder verdient Respekt.

Womit wir zum Abschluss bei Ihrem Kampf wären. Es heißt im Boxen, dass man im Ausland nur schwer nach Punkten gewinnen kann. Wie groß ist Ihre Angst, in England betrogen zu werden?

Formella: Darüber mache ich mir keinen Kopf. Das Risiko muss ich eingehen, wenn ich Großes erreichen will. Es ist ein 50:50-Kampf, ich weiß, dass er schlagbar ist. Wenn er der Bessere ist, verdient er den Sieg. Wenn ich der Bessere bin und den Sieg trotzdem nicht bekomme, steht zwar eine Niederlage in meinem Rekord, aber die Boxwelt wird wissen, wie es wirklich war. Und wenn ich gewinne, ist sowieso alles gut. Der Spruch, mit dem ich meine Mutter immer beruhige, ist: Das wird schon. Und das denke ich auch diesmal.